Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
anhat.
»Meinst du nicht, die haben bei der Geburt etwas vergessen?«, sagt Harry.
»Was?«
»Die Nabelschnur zu durchtrennen.«
»Scheint so.« Ohren oder Arme – eins von beidem tut immer weh, entweder vom Schreien oder vom Tragen. Ich kann wählen. Meistens wähle ich die Arme und schone meine Ohren.
»Passen Sie auf«, sagt Feldkamp. »Wir erleben das oft hier, bei Kindern, die lange zwischen Leben und Tod schweben. Auch die muss man loslassen können.« Halte ich Lotta so fest, weil ich fürchte, dass sie mir der Tod in einem unbeobachteten Moment entreißt? Versuche ich sie zu beschützen vor dem, was vielleicht kommt? Als würden die alten Regeln noch gelten, als könnte ihr auf meinem Arm nichts passieren.
Jeden Abend um 17 Uhr, wenn Ben sein Hörspiel hört, haben Lotta und ich eine Verabredung mit der Badewanne. »Routine«, hat Feldkamp gesagt. Im warmen Wasser lasse ich ihren Körper hin und her schwenken, halte ihren Kopf und schaue in ihre Augen, die nach oben starren. Das Wort »blind« verdränge ich so gut es geht. Daneben lasse ich ein Quietscheentchen schwimmen, Lotta ignoriert es. »Alle meine Entchen« , singe ich. »Schwimmen auf dem See, schwimmen auf dem See ...« Plötzlich zieht Lotta ihre Mundwinkel nach oben. Das erste bewusste Lächeln. »Oh Lotta, du kannst ja lächeln.« Sie lächelt, ich weine. An diesem Abend bleiben wir so lange in der Badewanne, bis wir ganz schrumpelig sind.
Bei Ben mussten wir sechs Wochen auf diesen Moment warten, bei Lotta über sechs Monate. Sechs Monate, in denen ich mich am Ende gefragt habe, ob cerebrale Bewegungsstörung auch bedeuten kann, niemals zu lächeln. Zwei hochgezogene Mundwinkel ändern alles. Zum ersten Mal kommt etwas zurück von Lotta. Sie zum Lächeln zu bringen, wird unser aller Lieblingsbeschäftigung. Wir können etwas für sie tun. Wir können dafür sorgen, dass sie mehr ist als nur blind und behindert: glücklich. »Wie schön, dass du geboren bist ...« , singt Ben und wir Eltern singen mit. Wir hätten dich sonst sehr vermisst.
Mit Clara, Greta und Fritz Pizza-Essen beim Familien-Italiener. Die Kinder toben herum, Lotta auf meinen Knien.
Ben ruft: »Lotta, lach mal! Lotta, schau mal hier!«
»Nein, hier gucken!«, schreit Fritz.
»Huhu, Lotta, lach mal für mich«, ruft Greta.
Jeder darf mal streicheln, jeder darf mal küssen. Lotta strahlt.
»Aber der Fritz darf Lotta nicht heiraten«, sagt Ben abends beim Einschlafen. »Nur ich.«
Ben und Lotta liegen auf der Krabbeldecke. Ich schwinge unsere graue Wolldecke in die Luft und lasse sie auf sie herunterschweben. »Meine Kinder haben sich versteckt, wo sind sie – sie sind weg« , singe ich. Die Decke beult sich, wo Ben sich zu Lotta dreht. Es kichert unter dem Grau. »Kuckuck!«, rufe ich und ziehe die Decke mit einem Ruck wieder hoch in die Luft. Ihre Haare fliegen vom Luftzug mit nach oben. Ben lacht laut auf, Lotta lächelt stumm und selig. Die Decke sinkt wieder herunter und verdeckt sie. Wir spielen »Meine Kinder haben sich versteckt« . Stundenlang.
Lotta kann lächeln. Lotta kann schnullern. Alles ist möglich.
10
»Laufen oder lachen?«
Über Förderspielzeug, Dinkelkekse und die Frage: Bin ich unfair?
Ich habe einen neuen Job: Lotta. Ich arbeite gegen die Uhr. Wir haben noch etwa anderthalb Jahre – dann sollte sie mehr können als lächeln und schnullern. Dann sollte der »Verdacht auf cerebrale Bewegungsstörung« entkräftet sein. Ob Lotta das schaffen wird, das hängt auch davon ab, wie sehr wir sie fördern. Wie sehr ich sie fördere, denn ich bin es, die zu Hause bleibt, während Harry nach drei Monaten wieder ins Büro geht.
Wir diskutieren diese Wahl nur kurz. Ich bin freie Journalistin, er ist fest angestellt, ich bin elf Jahre jünger, ich verdiene sehr viel weniger, unsere Arbeitsteilung liegt auf der Hand. Wir haben es gut. Wir können es uns leisten, dass ich mit Lotta bei Physiotherapeuten, Kardiologen, Neurologen, Augenärzten, Orthopäden und Logopäden sitze, während Ben mit Jodi auf den Spielplatz geht. Meinen beruflichen Wiedereinstieg verschiebe ich, auf unbestimmte Zeit. Lotta geht vor.
»Du bist fein raus«, sagt Clara. »Du musst dir nicht den Kopf zerbrechen, ob du nach einem Jahr wieder arbeiten sollst oder nicht. Du bist raus aus der Debatte. Du hast keine Wahl.«
Sie ist noch immer die Einzige, der ich alles erzählt habe. Einer Kollegin sage ich am Telefon, dass Lotta »entwicklungsverzögert« ist und oft ins
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