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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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das Gehirn holt sich von allein, was es braucht. Die Frühförderleute sollen den Eltern nur beibringen, ihre behinderten Kinder nicht zu hassen und in den Hundezwinger zu sperren.«
    »Sie haben eine gute Prognose«, sagt eine zu mir.
    »Lotta?«, frage ich hoffnungsvoll.
    »Nein, Sie als Mutter. Als Familie.«
    Wir haben eine Prognose. Wir sind ein Fall. Vor unserer Tür halten jetzt bunt beklebte Autos mit Aufschriften wie »Anderen zu helfen ist unser Antrieb«.
    Als Studentin in den USA habe ich bei einer gemeinnützigen Organisation Nachhilfe gegeben. Jamar, schwarz, zwei Köpfe größer, auf Bewährung. Drogen. Ich habe mit ihm lesen geübt, er wollte seinen Highschool-Abschluss machen. Bin ich jetzt Jamar? Bin ich jetzt die, der man hilft, wenn man ein gutes Herz hat oder eine soziale Ader? Oder es gerne glauben möchte? Werden Studenten irgendwann unsere Familie im Lebenslauf angeben, unter der Überschrift »Soziales Engagement«?
    Ich melde uns bei einer Beratungsstunde an, bei einer Organisation für Menschen mit Behinderung. »Ich rufe wegen meiner Tochter Lotta an.« Das Büro ist in Kalk. »Wie komme ich denn zu Ihnen?«, frage ich am Telefon. »Ich war noch nie in Kalk.«
    »Kommen Sie mit der Bahn?«
    »Mit dem Auto.«
    »Wir könnten Sie an der Haltestelle abholen.«
    »Ich komme mit dem Auto.«
    Ich möchte nur die Adresse. Die Dame am anderen Ende besteht darauf, mir eine Wegbeschreibung zu schicken – per Post.
    Als ich ihren Brief öffne, finde ich einen kopierten Stadtplan, darauf eingezeichnet der Weg. In Neonleuchtstift. Das Ziel eingekringelt. Mit zwei Pfeilen. »Für wie blöd halten die mich eigentlich?«, frage ich Harry.
    »Sippenhaft«, sagt er.
    Niedrigschwellige Ansprache heißt das, werde ich später lernen. Niemanden ausgrenzen durch zu hohe Erwartungen, weder Behinderte noch sogenannte bildungsferne Schichten. Prima wahrscheinlich, wenn man zu dieser Zielgruppe gehört – kränkend, wenn man es nicht tut. Als mich Frau Schmidt von der Sehfrühförderung zum ersten Mal fragt: »Soll ich Sie zum Augenarzt begleiten?«, frage ich: »Wieso?« Ich kann allein zum Arzt, ich kann ein Navi bedienen, da, wo ihr mich abholen wollt, habe ich noch nie gestanden. Danke, nein, meine Würde möchte ich gern behalten.
    Bin ich überempfindlich? Gehören wir jetzt zu den Menschen, die man beim Erstkontakt automatisch niedrigschwellig anspricht, die Termine beim Sozialarbeiter kriegen, die nicht allein zum Arzt gehen? Und wenn schon. Hängt unsere Würde wirklich davon ab, wie andere uns ansprechen? Oder davon, wie wir antworten?
    Beim Augenarzt: Lotta quengelt, ich gehe mit ihr im Raum auf und ab. Frau Schmidt schildert dem Arzt Lottas Fortschritte. »Danke«, sage ich, als wir gehen. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
    Vielleicht geht es hier nicht um Würde. Sondern um meinen Stolz. Vielleicht geht es darum anzunehmen, dass sich mit Lottas Diagnose nicht nur ihr Leben geändert hat, sondern auch meins.

    Die Wahrheit dosieren wir in kleine Häppchen. Auch vor uns selbst. Was ich vor anderen ausspreche, ist das, was ich mir eingestehe. »Entwicklungsverzögerung« wird unser Lieblingswort. Die Nachbarn kennen es, die Kollegen. Melanie habe ich nicht noch einmal darauf angesprochen, ich fürchte, sie wird es wieder nicht glauben. Auch die meisten anderen gehören zur Fraktion »Alles wird gut«: »Ach, das wird schon. Ihr habt doch schon ganz anderes geschafft.« Der große schwarze Hund, der zerrt und bellt – wir alle möchten, dass er nur ein Dackel ist.
    Doch es wird schwerer, diese Illusion aufrechtzuerhalten. Wenn wir in der Eisdiele sitzen, sagen alte Damen nicht mehr: »Wie süß!«. Sie blicken herüber und rätseln. Lotta hat jetzt Zähne und ist offensichtlich viel zu groß, um ihren Kopf so instabil zu halten. Sie ist elf Monate alt. Es ist, als hielte ich ein Suchbild im Arm. »Hier haben wir einen Fehler versteckt. Finden Sie ihn?« Eines Tages fasst sich eine grau gelockte Oma ein Herz. »Junge Frau«, sagt sie. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber mit Ihrer Kleinen stimmt etwas nicht. Da sollten Sie mal zum Arzt gehen.«

    Den großen schwarzen Hund – ich lasse ihn auf meine Mutter los. Meine Mutter, vor der ich als Kind aufgeschlagene Knie heruntergespielt habe. Hat gar nicht wehgetan.
    »Oh, Schatz!«, sagt sie und zieht mich an sich. Tränen in den Augen. Ich drücke ihr die quengelnde Lotta in den Arm und verlasse den Raum. Von draußen höre ich sie singen: »Heile,

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