Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
sitzen, die lachen, die reden, die leben. Ich bin einer von ihnen. Ich könnte jeder sein. Ich bin nicht die »Mama von der Lotta«, wie sie im Krankenhaus immer sagen. Ich bin niemand. Ich bin nichts. Ich laufe, laufe, laufe, bis ich in den Massen verschwinde.
Ich laufe jeden Abend weg, zwei Wochen lang. Ich laufe, bis ich zu müde werde, um weiterzugehen. Bis meine Augen wehtun von all den Lichtern. Wenn die Geschäfte schließen, gegen 22.30 Uhr, wenn sich die Menschenmenge um mich herum zurückzieht, kehre ich zurück in mein Leben und krieche unter die warme Decke zu meiner Familie.
Einmal bleibe ich vor einem hell erleuchteten Schaufenster stehen. Gelbe Kaschmirpullover für Mädchen. Ich gehe rein und nehme einen vom Stapel hinter dem Eingang. »Are you looking for a present?«, fragt mich eine Verkäuferin.
Nein, kein Geschenk, ich schüttele den Kopf. Ich schaue für meine eigenen Kinder.
»You’ve got kids?«
»Yes, a boy and a girl.«
»You must be so happy!«, quietscht sie.
»I am«, sage ich und es stimmt. Ich grinse. Ich habe zwei Kinder. Ich bin glücklich.
»Und wenn sie nie laufen lernt …«, sage ich zu Harry, der mich müde aus dem Bett anblinzelt, als ich hereinkomme.
»Pssst!« Harry legt den Finger vor meine Lippen.
Ich flüstere: »Und wenn sie immer Hilfe braucht. Und wenn schon! Lotta mag nicht sitzen können oder »Dedi« sagen, sie ist trotzdem das wundervollste Mädchen der Welt – unseres.«
»Und das, das am süßesten schnarchen kann«, flüstert Harry zurück und zeigt auf das Gitterbett. Ich trete heran, ein leises Schnorren dringt heraus. Lotta liegt auf der Seite, der Schnuller ist ihr aus dem Mund gefallen und bohrt sich in ihre Wange. Ihre Hände hat sie zu Fäusten geballt und unter das Kinn gezogen. Vorsichtig ziehe ich den Schnuller unter ihrem Gesicht hervor. Sie seufzt im Schlaf.
Bestimmt braucht Lotta kein New York, um sich zu entwickeln. Aber vielleicht brauche ich es, um weiterzumachen. Vielleicht brauchen Harry und ich es. Annehmen – das geht leichter, wenn man mehr als ein Leben hat. Wenn wir in andere Rollen schlüpfen können, und sei es nur für ein paar Stunden. Wenn wir nur ein Paar sind oder ein Niemand in der Menge. Wenn wir nur auf uns hören statt auf die Ärzte und Therapeuten, und sei es Dr. Feldkamp. Es muss nicht Manhattan sein. Rausgehen, sich bewegen, etwas anderes sehen, etwas anderes machen – das hilft mehr gegen meine Müdigkeit als jeder Schlaf.
Zu Lottas erstem Geburtstag wickele ich einen gelben Kaschmirpullover in silbernes Geschenkpapier, dazu alles, was es bei »FAO Schwarz« an schwarz-weißem Spielzeug zu kaufen gab. Auf einen Schokoladenmuffin stecken wir eine Kerze und singen morgens im Bett für Lotta:
»If you’ll make it there,
you’ll make it anywhere.
It’s up to you.
New York, New York.«
12
»Sie kennen Ihr Kind am besten«
Vom Alleinsein und Selbstentscheiden
»Lass sie los!«, ruft Ben, als er uns sieht.
Physiotherapie auf der Wickelkommode. Ich drücke, Lotta schreit, Ben zerrt an meinen Beinen. »Das ist gemein!«, sagt er und tritt mich gegen das Schienbein.
»Auah!«
Als ich herunterschaue: »Du hast angefangen! Lotta will das nicht.«
Nein, sie will nicht und ich auch nicht.
Heute hat Lotta Temperatur, heute hat sie schlecht geschlafen, heute keine Physio. Ausreden. Bestimmt gibt es Kinder, die enorme Fortschritte machen, die sich an das Verrenken gewöhnen. Gehört Lotta nicht dazu oder bin ich zu ungeduldig? Ich recherchiere im Internet, ich lese Abhandlungen zu der Wirksamkeit von Physiotherapie. Empirisch überprüfen lässt sich deren Effekt nicht, wie sollte eine wissenschaftliche Studie auch aussehen? Es müsste eine Kontrollgruppe geben – von Kindern ganz ohne Therapie. Schon daran scheitert es. Keine spastische Cerebralparese ist exakt wie die zweite, sie lassen sich nur schwer vergleichen, jedenfalls nicht im wissenschaftlichen Sinne. Hirnschäden sind immer etwas Einzigartiges.
Ich lese: »Entscheidend ist die Compliance der Mutter.« Befolge ich die Regeln folgsam genug? Wohl nicht. Dafür habe ich zu viele Zweifel.
Ich informiere mich über Bobath-Therapie. Ziel ist es hier, den Kindern spielerisch neue Möglichkeiten zu erschließen. Die Variante für die leichten Fälle. Ich rufe alle Ärzte an, die ich kenne, und frage nach. »Eine gute Therapeutin macht sowieso nicht Vojta- oder Bobath-Therapie, sondern Lotta-Therapie«, sagt mir ein Neurologe. »Diese Grenzen gelten schon
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