Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Ich stehe mit der schreienden Lotta im Raum, sie schüttelt einen Sitzsack auf. Ich will Lotta hineinlegen. Sie schüttelt den Kopf. »Für Sie!«
Sie streckt die Arme nach Lotta aus, ich gebe sie ihr und setze mich in den Sitzsack. Ich beuge mich vor. »Sie sollte mehr auf dem Bauch liegen«, sage ich. »Aber sie schreit dann immer so.«
Frau Kniep schüttelt den Kopf. »Lotta sollte gar nichts. Jetzt schauen wir erst mal, dass Sie zwei sich beruhigen.«
Frau Kniep ist ein weiblicher Feldkamp. Keine Prognosen, nur lächelndes Schweigen und »Abwarten, Frau Roth«.
Ich lerne, Lottas Beine zu dehnen. Sie fester anzupacken, ihr Halt zu geben. Ich lerne, mich zu beruhigen. Dienstags und donnerstags. Wenn Harry abends fragt »Und?«, weiß ich nicht, was ich berichten soll. »Sie hat sich super dehnen lassen« – ist das ein Fortschritt?
Frau Kniep pustet auf Lottas verkrampfte Hände. Sie streichelt mit dem Zeigefinger über ihren Handrücken und das Wunder geschieht. Zuerst lösen sich die Fingernägel von der Handinnenfläche, ihre Finger heben sich, der Daumen streckt sich zögernd. Lotta öffnet ihre Hand. Sie reißt ihre Augen auf, als staune sie selbst darüber. Ich halte den Atem an und ziehe leise mein Handy aus der Tasche. »Darf ich ein Foto machen?«
Wir fallen aus der Zeit. Eine geöffnete Hand, ein Abstützen mit dem rechten Arm, ein Kopf, der nicht wackelt, sondern still und gerade hält – Meilensteine. »Das machst du toll«, lobe ich Lotta nach der Stunde und küsse sie auf die Stirn, über ihre staunenden Augen. »Du bist mein großes Mädchen.« Kuss auf die Hand, die sich geöffnet hat, auf den Hals, den sie gerade hält, Küsse auf ihren lächelnden Mund. »Mama ist so stolz auf dich.«
Clara zu Besuch. »Krieg ich Kaffee?«
Ich lege Lotta auf ihre Decke. Sie verzieht die Mundwinkel. »Hüm. Hüm, Hüüüümm!« Bis ich bei der Kaffeemaschine bin, ist Lotta bei lautem Brüllen angekommen. Clara kriegt Kaffee, dann nehme ich Lotta wieder hoch. Stille, sofort.
»Die tanzt euch doch auf der Nase rum«, meint Clara.
»Ja«, antworte ich und gebe Lotta einen Klaps auf den Windelpopo. »Das kann sie schon.«
Worauf man alles stolz sein kann.
Wir kämpfen gegen eine unsichtbare Kraft. In Holland, nicht weit von unserem Ferienhaus, steht ein Baum auf freiem Feld. Als kleines Pflänzchen hat er sich mit dem Wind gebeugt und bei Windstille wieder aufgerichtet. Rauf, runter, rauf, runter. Biegsam, leicht, ein Baum, wie er überall stehen könnte. Heute steht er gekrümmt, alle seine Äste zeigen weg von der Küste, knorrig, verdreht, erstarrt. Ein Denkmal für die Kraft des Windes. Lottas Arme, die jetzt noch locker nach unten hängen, ziehen sich im Lauf der nächsten Jahre immer öfter nach oben. Ihre Knie richten sich schnell nach innen, ihre Füße sind oft durchgestreckt, als wollte sie auf Zehenspitzen stehen. Ihre Muskeln spannen sich an, unter dem Druck eines inneren Windes, der immer dann weht, wenn sie sich anstrengt, wenn sie weint oder sich freut.
Eine spastische Cerebralparese kann ein laues Lüftchen sein, Lottas ist ein Sturm. Er wird Lottas linken Hüftknochen aus dem Gelenk springen lassen, weil sie ihre Hüfte zu sehr nach außen dreht. Er wird drohen, ihre Venen zu verkürzen, ihr Schmerzen zu bereiten. Auf beiden Seiten. Es ist nicht einseitig, wie der erste Neurologe noch humpelnd vorgemacht hatte. Dass es beidseitig ist, muss uns später keiner mehr sagen. Wir spüren den Wind, wir sehen ihn in ihrem Körper. Wir werden Botox spritzen lassen in die Muskeln, die sie zu stark anspannt, um sie zu lähmen. Eine Standardbehandlung bei Spastik. Wir werden Dehnübungen machen, ihre Füße in Schienen stecken, die verhindern, dass sie überstreckt. Wir werden versuchen, den Wind aufzuhalten.
Während ich bei Frau Kniep sitze und über eine geöffnete Hand staune, ahne ich nicht, wie stark der Sturm sein wird, gegen den ich mich mit Lotta stemmen werde. Noch weiß ich nicht, welchen Gegner ich haben werde, bei meinem Vorsatz, Lotta das Laufen beizubringen. Noch sieht keiner von außen, wie stark es in Lottas Innerem weht. Noch ist sie ein Pflänzchen, zart und biegsam.
»Spiel verstecken mit mir!«
Ben steht vor mir. »Ich koche, das siehst du doch.«
»Dann Lotta!«
Lotta liegt um die Ecke auf einer Decke und ist ruhig. »Spatz, das kann sie doch nicht.« Ich gehe zum Kühlschrank und hole die Zucchini raus.
»Warum nicht?«
»Wegen der Ader. Weil der Kopf den Beinen
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