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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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lange nicht mehr.«
    Soll ich wechseln?
    »Sie kennen Ihr Kind am besten.«
    Kardiologen, Augenärzte, Orthopäden, Neurologen – unterschiedliche Fachrichtungen, ein Satz: Sie kennen Ihr Kind am besten.
    Der Kardiologe: »Was ist Ihr Eindruck von Lottas Herz?«
    Der Augenarzt: »Frau Roth, finden Sie, dass Lotta besser sieht?«
    Die Orthopädin: »Hat Lotta Schmerzen? Sie kennen Ihr Kind schließlich am besten.«
    Wo lernen Ärzte diesen Satz? Lehren ihn die Dozenten an der Uni? Oder ist er ein Ratschlag von älteren Medizinern: »Junger Kollege, wenn Sie nicht mehr weiterwissen, fragen Sie die Mutter. Die kennt ihr Kind am besten.«
    Wenn ich wüsste, wie es Lottas Herz geht, müsste ich nicht zum Kardiologen gehen. Wenn mir der Augenarzt nicht sagen kann, welche Fortschritte Lotta macht, wer dann? Soll ich allein entscheiden, welche Therapien die richtigen sind, was Fort- und was Rückschritte sind? Wir sind allein, immer noch.
    »Die stehlen sich aus der Verantwortung«, erzähle ich Nina am Telefon. »Wie soll ich das beurteilen? Ich bin doch kein Arzt.«
    »Ich habe Leons Kardiologen gesagt, mein Klempner sagt doch auch nicht: Sie kennen Ihre Spülmaschine am besten.« Sie lacht nur sehr kurz.
    »Kann uns denn keiner helfen?«
    »Was ist mit Liebling Feldkamp?«
    »Der sagt: Nun trauen Sie sich schon, selbst zu entscheiden.«
    Lotta entspricht nicht dem, was im Lehrbuch steht. Sie lässt sich nicht mit dem gleichen Maß wie andere Kinder messen, sie braucht ihr eigenes. Was bei anderen Kindern besorgniserregend wäre, ist bei ihr Teil des Lebens. Ihre Realität ist aber nur für uns Normalität. So ist Lotta – das können nur wir sagen.
    Die Orthopädin sagt: »Das mit dem Jammern ist normal, oder?«
    »Nein«, widerspreche ich. »Dieses Jammern heißt Schmerzen.«
    Zum Augenarzt: »Dieses Schielen sehe ich sonst nie. Da können wir abwarten, oder?«
    Zum Kardiologen: »Lottas Herz geht es gut.«
    Vielleicht werde ich irgendwann wieder als Journalistin arbeiten, jetzt bin ich Dolmetscherin. Für andere sind Lottas Fortschritte kaum zu erkennen, für uns sind sie riesig. Für andere sind ihre Laute unverständlich, ich lese in ihrem Gesicht alles, was ich wissen muss. Doch kann ich mich auf meine Muttergefühle verlassen? Was, wenn ich falschliege? Jetzt, wo meine Worte so viel Gewicht haben, zögere ich sie auszusprechen. Ich lerne: Was deutet auf eine Herzinsuffizienz hin? Was sind Anzeichen von erhöhtem Hirndruck? Wie viel Schielen ist tolerierbar? Wenn die Ärzte uns alleinelassen, werde ich eben mein eigener.
    Lassen sie uns allein? Oder sind sie klug genug einzugestehen, wie wenig sie wissen? Lotta ist keine Spülmaschine, die sich auseinandernehmen und reparieren lässt. Vielleicht verlange ich eine Sicherheit, die es gar nicht geben kann? Für Problem A gibt es Lösung B, das funktioniert selbst bei Spülmaschinen oft nicht. Ist Medizin eine exakte Wissenschaft? Beruht sie nicht immer auf der Deutung von Zeichen, auf Interpretation von Phänomenen, auf Schilderungen von Patienten und Angehörigen? Ich werde die Ärzte schätzen lernen, die mir keine einfachen Lösungen präsentieren, sondern nachfragen. Die sagen: Sie kennen Ihr Kind am besten.
    Neue Vorsätze: Fachausdrücke, kein Small Talk, Tränen nur vor der Tür. Augenhöhe. Meinem Bauchgefühl trauen und Ärzte als Menschen akzeptieren, die sich irren können. Sie meinen das nicht böse. Für sie ist es ein Job, für mich meine Tochter. Sie haben Hunderte Patienten, ich habe einen. Ich bin der Experte.
    Irgendwann in einer weit entfernten Zukunft werde ich Sätze sagen wie: Nein, meine Tochter braucht kein Sedativum, die braucht Ruhe. Oder: Sie hat Schmerzen, ich will, dass sie sofort ein Schmerzmittel kriegt. Oder: Ich glaube nicht, dass der Hirndruck erhöht ist. Können wir nicht abwarten?
    Zurzeit bin ich hilflos, irgendwann werde ich unbequem sein. Ich werde hören: »Auf Ihre Verantwortung …« Ich werde erwidern: »Ich kenne mein Kind am besten.«

    Die Entscheidung für einen neuen Therapeuten ist die erste, die ich aus dem Bauch heraus treffe. Noch bin ich unsicher, ob ich das darf. Bei unserer Physiotherapeutin verabschiede ich mich: »Es tut mir leid, ich kann nicht mehr.«
    »Machen Sie eine Pause«, sagt sie. »Und dann rufen Sie mich wieder an.«
    Mache ich das Richtige? Werde ich das irgendwann bereuen?
    Anne Kniep, Anfang 50, blonde Locken, Turnschuhe, eine »Kapazität«. Ein Wort, das mich mittlerweile misstrauisch macht.

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