Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
oder denen von Bayern München. Einige Mütter tragen Louis-Vuitton-Taschen, andere Babys, manche beides.
»Entschuldigung, junge Frau, Sie haben da einen Spuckfleck.« Clara.
Ich wische mir die Schulter. Lotta habe ich bei Harry gelassen, Vater-Tochter-Stunde. »Und wenn sie einen Anfall kriegt?«, hat er gefragt. »Es wird schon gut gehen«, habe ich geantwortet. Gestern haben ihre Augen auf einmal wieder gezuckt, doch nach dreißig Sekunden war es vorbei. Mein Handy liegt auf dem Tisch vor mir.
»Du hier?«, frage ich Clara.
»Mein Ex war Mitglied. Ich habe das Haus, die Kinder und die Clubmitgliedschaft gekriegt.«
»Du Glückspilz.«
Vor uns steigen wieder vier Kinder aus einem Landrover. »Für die gilt das Gleiche wie für Quadratmeter«, sagt Clara. »Je mehr, desto besser.«
»Aber nur in der richtigen Lage.« Werde ich Lotta jemals mit hierhin nehmen?
»Mama, hast du einen Regenschirm?«, fragt Ben.
»Nein, aber gleich geht euer Kurs los.«
Die Kinder spannen Regenschirme auf und stellen sie auf die nasse Wiese. Ein Hermès-Schirm, ein Mini-Cooper-Schirm, dreimal Tchibo und Prinzessin Lillifee. Die Kinder setzen sich darunter. Die Mütter rufen: »Das ist nass«, »Schatz, steh auf!« Clara ruft: »Was spielt ihr denn da unter den Schirmen?«
»Obdachlos!«
»Das kommt von dieser Kirchenaktion«, sagt die mit dem Grundriss. »Die stehen immer um 12 Uhr neben dem Kindergarten, wegen des Mittagessens. Die Kinder müssen mittendurch laufen.«
Bevor einer etwas dazu sagen kann, ruft Ben: »Kommt, wir spielen behindert.« Er lässt seinen Kopf zur Seite fallen, dreht seine Knie nach innen und lässt die Zunge raushängen.
»Ben, hörst du sofort auf!«
Er zuckt zusammen, so scharf ist mein Tonfall.
Wie erschreckend ein behindertes Kind aussehen kann, sehe ich erst, als sich Ben vor meinen Augen in eines verwandelt. Vielleicht starren manche Leute Lotta nicht an, weil sie so anders aussieht als ihre eigenen Kinder – sondern weil sie ihnen so ähnlich ist. Wie schmal die Grenze ist zwischen normal und anders. Wie schnell sie überquert ist.
Werden wir irgendwann diejenigen sein, die keiner vor dem Kindergarten sehen will? Wird unser Haus kein Ort sein »für so Kleine«?
Ich nehme Ben in den Arm. »Entschuldige.«
Er runzelt die Stirn. »Geht der Kurs jetzt endlich los?«
»Wie geht es Ihrem Schwiegervater?«, haben sie mich in der Apotheke gefragt. »Der war schon lange nicht mehr hier.«
Der Großvater sitzt auf seinem Sofa und schüttelt den Kopf. Vor ihm ein schwarzer Rollator mit Einkaufsnetz und Sitz. »Sieht doch schick aus!«, versuche ich. Der Reha-Techniker hat ihn dagelassen, zum Ausprobieren. »Ich habe gerade erst einen Artikel darüber gelesen. Das sind die neuen Statussymbole.«
Der Großvater sieht mich an und zieht eine Augenbraue in die Höhe. »Na ja«, sagt er.
Ich denke an Harry und den Maserati. »Da schaut doch heute keiner mehr.«
Ältere Menschen am Rollator sind nichts, wo man zweimal hinsieht. Ein Kind am Rollator dagegen schon. Behinderung ist ein Altersphänomen, nur zwei Prozent aller Menschen mit einem Schwerbehindertenausweis sind unter 18 Jahre alt, die meisten sind über 65. Und doch nehmen wir einen Mann über 80 mit Gehhilfe nicht als behindert wahr, sondern bloß als alt. Ist Behinderung legitimer, wenn sie mit dem Alter erworben wird, statt angeboren zu sein? Alles nur Gewöhnung.
»Na ja«, sagt der Großvater wieder. »Aber nur wenn du und Lotta mich begleitet.«
So ziehen wir los, zur Apotheke, zum Supermarkt. Großes Hallo. »Wir haben Sie viel zu lange nicht mehr gesehen.«
»Weißt du«, sagt der Großvater zu Lotta und streichelt über ihre Mütze. »Wenn du das kannst, mein Wunderkind ...«
Frau Girschke treffen wir vor der Bäckerei. »Lange nicht gesehen.« Sie schaut dünner aus als beim letzten Mal. Sie lächelt schmal. »Neuer Kinderwagen?«
»Ja, der stützt Lottas Rücken«, sage ich. »Sie hat eine schwerere Behinderung, als wir ursprünglich dachten.« Der Großvater ist schon ein paar Schritte weitergegangen. Frau Girschke schaut mich stumm an. Jetzt ist es raus. Behindert.
»Ich habe Brustkrebs.«
»Mist«, rutscht mir raus. »Entschuldigung.«
»Nein, stimmt schon.«
Bin ich ein Mitleider, ein Wegdrücker, bin ich Nina Ruge? Ich versuche Clara zu sein. »Wollen Sie ... Wie geht es Ihnen?«
Frau Girschke ist nicht die Einzige. Auf der Straße: »Mein Mann geht fremd.« An der Supermarktkasse: »Meine Tochter wird wohl
Weitere Kostenlose Bücher