Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
gucken. Er soll sich nicht dafür verantwortlich fühlen, mich glücklich zu machen. Das geht doch nicht. Ich ...«
»Du bist nicht allein.«
»Wer sitzt denn bei Dr. Waltz? Wer ist den ganzen Tag bei Lotta? Hast du schon mal Diazepam gegeben?«
Er nimmt die Hand weg.
»Entschuldigung«, sage ich. »Es tut mir leid, aber ich ...«
»Ich muss mit meiner Chefin reden.«
»Was willst du ihr denn sagen?«
Ich weise Jodi in den Gebrauch der Diazepam-Rektiolen ein und schreibe ihr eine Vollmacht. Sie hat sehr viel auf Ben aufgepasst in letzter Zeit, nun soll sie Lotta nehmen. Ich zeige ihr auf dem Computer das Video von Lottas Krampf, 37 Sekunden stehen wir nebeneinander und sagen nichts. Wird sie es machen? Wird es ihr zu viel Verantwortung sein? Und ich: Werde ich Lotta loslassen können? Wenn ich sie zu sehr festhalte, lasse ich Ben fallen.
»Früher habe ich mal in der mobilen Pflege gearbeitet, ich habe sogar eine Schulung im Umgang mit Epilepsie-Patienten bekommen«, sagt Jodi. »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Roth.« Ich umarme sie, sie ist fast einen Kopf kleiner als ich und klopft mir auf die Schulter. Was habe ich für ein Glück.
Nachmittags. Ich mache Lottas Lieblingsmusik an. » Ich wohne in den Wolken, ich bin ein Tropfenkind, wenn’s regnet, fall ich runter und tanze mit dem Wind ...« Ben hat seinen Fahrradhelm in der Hand und zerrt: »Nun komm schon, Mama!«
»Viel Spaß«, sagt Jodi und schaukelt Lotta auf den Knien.
Ich halte Ben am Gepäckträger fest, ich laufe, er eiert um den Platz vor unserer Tür. »Du musst schneller treten!«
»Das geht nicht!«
»Schneller!«
Wir eiern an unserem Haus vorbei. Am Fenster steht Jodi mit Lotta auf dem Arm und lächelt. Sie winkt. Ich laufe schneller, gebe dem Gepäckträger einen Schubs und lasse los. Ben fährt von mir weg. Er schwankt. Wird er stürzen?
»Ich kann es!« Ben tritt schneller und schneller, wie ein Besessener. »Schau mal, Mama, ich kann Fahrrad fahren!«
Ich klatsche und johle. Ich schreie, als wäre ich im Stadion. Ben fährt eine große Runde um den Platz. Ich hole mein Handy raus und filme. Ich filme sein lachendes Gesicht unter dem Fahrradhelm, wie er von mir wegfährt und immer kleiner wird, ich schwenke auf Jodi am Fenster mit Lotta auf dem Arm. Und wieder zurück auf den fahrenden Ben. Und noch eine Runde und noch eine. Und noch eine. »Ich kann es!«, ruft Ben.
Schuldgefühle, Versagensängste, Depressionen – schätzungsweise zehn bis zwanzig Prozent der Geschwister behinderter Kinder seien »gefährdet«, lese ich in der Zeitung. Sie kommen zu kurz, müssen zu früh zu viel Verantwortung schultern. »Gut«, sagt Harry. »Wir hatten schon schlechtere Prognosen.« Achtzig bis neunzig Prozent der Kinder kommen klar. Lottas Physiotherapeutin Frau Kniep sagt dazu: »Das ist wie mit allen Geschwistern: Er kann davon profitieren. Sie werden das schon richtig anpacken.« Ich lese von Geschwistern, mittlerweile erwachsen, die sagen: Von meinem Bruder mit Down-Syndrom habe ich Lebensfreude gelernt. Was wirklich zählt. Ich würde meinen Bruder nicht missen wollen. Er hat mich stark gemacht.
Klingt gut. Klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Was wird Ben später sagen?
Neue Vorsätze: Kakao trinken, ohne Lotta. Malen, gemeinsam. Lachen. Keine Rücksicht. »Doofes Gewitter im Kopf.«
Ich melde Ben zum Schwimmkurs an. Lotta bleibt zu Hause bei Jodi. Ich sitze am Beckenrand. Ben schaut zu mir, hebt eine Hand aus dem Wasser und winkt, statt mit den Armen Kreise zu ziehen. Er winkt und geht unter. »Nun schwimm mal!«, rufe ich.
»Raus hier!«, schreit der Schwimmlehrer. »Alle Mütter raus, ihr müsst mal abgeben lernen!«
Als der Kurs zu Ende ist, rubbele ich Ben mit dem Handtuch trocken. »Wollen wir noch in die Eisdiele?«
Mein Handy klingelt. Jodi. Lotta krampft. Ich klemme mir das Handy mit der Schulter ans Ohr und zwänge Ben den Pulli über den Kopf. Ich höre Jodi zu, wie sie Lottas Augenbewegungen beschreibt, wie sie sagt »Ssccchhh, Lotta, alles gut, Jodi ist ja da.« Ich stülpe Ben seine Mütze über. »Noch föhnen!«, ruft er. »Egal, heute darfst du mit nassen Haaren.«
»Geben Sie Diazepam«, sage ich zu Jodi und zu Ben: »Komm, wir machen ein Wettrennen, wer zuerst beim Auto ist.«
Wir rasen durch Köln. Jodi die ganze Zeit am Hörer. Ich überhole, ich fahre über eine Ampel, die gerade noch gelb war. »Das war rot!«, ruft Ben von hinten.
»Es ist gut, Frau Roth, es ist vorbei«, sagt Jodi. »Sie
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