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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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möchte ihr ein Pflaster aufkleben, »Heile, heile Gänschen« singen und alles wieder gut machen. Ich möchte sie auffangen, wenn sie fällt, sie halten, wenn sie schlecht träumt, ihre Wunden versorgen, ihren Kummer verarzten, darüber wachen, dass ihre Welt heil und ganz ist. Ich möchte mich vor einen heranrasenden Laster schmeißen und mein Kind von der Straße schubsen. Das ist meine Aufgabe. Das ist es, was Mütter tun.
    Doch ich kann nichts machen. Ich bin machtlos. Ich war es schon, als wir noch einen Blutkreislauf teilten und sie unter meinem Bauchnabel lebte. Die Anfälle kommen, und ich kann nur danebenstehen und zusehen, wie sie mir mein Kind wegnehmen.

    Lotta und ich verschmelzen. Wenn ich auf Toilette gehe, renne ich. Beim Spazierengehen laufe ich nicht hinter, sondern schräg neben dem Wagen, sodass ich sie sehen kann. Ich kaufe ein Video-Babyfon. Auf einem Monitor kann ich Lottas Gesicht sehen, wenn sie oben schläft und ich mit Harry auf der Couch sitze. Ich gehe trotzdem dreimal pro Abend nach oben und leuchte ihr mit dem Handy ins Gesicht. Nachts wache ich regelmäßig auf und horche. Rasselt sie? Wenn ich mal schlafe, rüttelt Harry mich wach. »Hat sie was?« Der Schlafmangel legt einen Schleier über unsere Tage. Wir leben wie in einer anderen Zeitzone, getrennt von der Welt um uns herum.
    Doch die schlimmen Nächte sind nicht die, in denen wir aufwachen. Die schlimmen sind die, in denen wir durchschlafen und ich morgens mit einem Ruck erwache. Die Sekunden, bevor ich sie im Halbdunkel finde.

    Lotta krampft nachts um zwei im Bett, nachmittags um drei auf dem Spielplatz, hinten in ihrem Autositz auf der A4. In der Badewanne. »Alle meine Entchen, schwimmen auf dem See, schwimmen auf dem See ...« Verdrehte Augen und kleine Wellen. Jeder Anfall könnte zu einem lebensbedrohlichen Status werden. Wir leben von Anfall zu Anfall. Im Minutentakt, eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten, vier Minuten, Rektiole holen, Rektiole geben. »Bitte lass es aufhören«, sage ich leise.
    Wo immer wir sind, überlege ich zuerst, wie uns hier ein Notarzt erreichen kann. Welche Straße führt zum Spielplatz im Stadtwald, auf welcher Etage sind wir im Kaufhaus, wo ist der nächste Rastplatz? Mein Handy lade ich jeden Abend auf. In jeder meiner Handtaschen habe ich die Notfall-Rektiole Diazepam. Feuchttücher, Gummibärchen und Valium. Mother’s little helpers.
    Wir tanzen zu viert auf einem Seil, das kurz davor ist zu reißen.

    Feierabendverkehr. Stop-and-Go vor der roten Ampel. Ich am Steuer, Lotta auf dem Rücksitz. Ein rasselndes Einatmen von hinten, ich drehe mich um. Ein Schlag, der meinen Kopf nach vorne fliegen lässt. Lotta schreit.
    Blechschaden. Unsere Motorhaube eingedellt, beim Auto vor mir ein kaputter Kofferraum. Nichts passiert.

    Nachmittags zu Hause. Ben jagt einen Ballon durch das Wohnzimmer, ich sitze am Wohnzimmertisch und wende den Blick nicht von Lotta auf ihrer Krabbeldecke. »Mama, schau mal!«
    Ich schaue kurz zu ihm und wieder zurück zu Lotta. Hat sie die Augen nach oben verdreht?
    »Mama, schau mal!«
    »Was denn, Ben?« Ich gehe zu Lotta, streiche über ihre Stirn, ihre Augen kommen mit meinem Handwischen wieder nach unten. Alles in Ordnung.
    »Mama, schau mal, ich kann den Kopf halten!« Ben steht vor mir und reckt seinen Kopf in die Höhe. »Guck mal, wie toll ich das mache.« Er lächelt mich an. »Und ich kann lächeln. Jetzt musst du dich freuen.«
    Ich nehme ihn in den Arm. »Du bist toll, egal, was du kannst. Du ...« Oh Ben, es tut mir so leid.
    »Nicht«, sagt Ben. »Du sollst dich doch freuen.«
    Totalschaden.

17

»Du musst auch mal abgeben lernen«
Ein Rollentausch
    »Was würde dir helfen?«, fragt Harry. »Wie kriegen wir das hin?«
    Wir sitzen am Esstisch, die Kinder schlafen. Harry will einen neuen Plan. Ich schüttele den Kopf. »Das mit den Anfällen muss besser werden.«
    »Dann sprich mit Dr. Waltz.«
    »Was soll ich ihm denn sagen, er macht, was er kann.«
    »Sollen wir wechseln?«
    »Nein, ich habe da schon großes Vertrauen. Jetzt zu wechseln, wäre das Schlechteste, was wir machen können. Dann müssen wir von vorne anfangen. Es gibt nichts, was wir tun können. Gar nichts ...«
    Kann es überhaupt einen Plan geben, der in so einer Situation hilft?
    »Ist ja gut.« Harry legt seine Hand auf meinen Arm. »Vielleicht wird es ja nach der nächsten Embo besser.«
    »Ich bin einfach so allein. Ich muss ihr doch helfen können. Und Ben, ich muss auch auf Ben

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