Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Gesicht, wir alle sitzen ihr gegenüber und lachen zurück. Meine Mutter sagt: »Davon habe ich geträumt.«
Mit einer Bewegung habe ich kein Baby mehr – ich habe ein großes Mädchen. Jetzt kann ich mir vorstellen, wie es aussehen könnte, wenn sie geht. Auf steifen Beinen, mit Trippelschritten, aber auf den eigenen Füßen unterwegs. Vielleicht mit einem Rollator. Ich mache Fotos.
Wem kann ich diese Bilder zeigen? Ich sehe auf ihnen einen Grund, stolz zu sein, andere sehen einen Grund, Mitleid zu haben. Andere Eltern haben Bilder von Kindern im selben Alter, die rennen, wir haben Bilder von einem Kind, das auf krummen Beinen steht. Warum finden wir unsere Bilder trotzdem zehnmal schöner?
Lottas Fortschritte sind Wunderkerzen. Bei Tageslicht sind sie fast unsichtbar, doch bei Nacht glitzern sie wie Sterne, die vom Himmel gefallen sind. Man muss im Dunkeln stehen, um zu sehen, wie schön sie sind.
Den weißen Hochstuhl, den Lotta zu ihrem ersten Weihnachten bekommen hat, kriegt Ben. Sein alter mit den Macken kommt in den Keller. Lotta kriegt dafür eine »Sitzschale«, wie das unser Reha-Techniker Stefan Augst nennt. Ein Monster mit Rollen, mit einer U-förmigen Klammer, die Lottas Nacken umfasst, um ihren Kopf zu stützen, mit Bändern, um ihre Füße festzuschnallen, und einem kleinen Tisch, der sich vorklappen lässt wie im Flugzeug. 5500 Euro teuer, die Krankenkassse übernimmt etwa drei Viertel des Beitrags. Wir haben uns für schwarzen Stoff entschieden, zu einem silbernen Gestell.
Die Sitzschale lässt sich hoch- und runterfahren und fast bis in Liegeposition nach hinten kippen. Maßgeschneidert. »Form follows function«, sagt Harry dazu. »Der Rollstuhl«, sagt Ben glücklich. Das B-Wort steht jetzt auch in unserem Wohnzimmer.
Ich setze Lotta in den Stuhl, ich schnalle sie an. Das erste Mal sitzt sie mir alleine gegenüber. Sie bewegt suchend den Kopf hin und her, sie hebt einen Arm und verzieht den Mund. Ich klappe ihren Tisch vor und lege eine knisternde Folie vor sie. »Schau mal hier!« Ich knistere, Lotta schreit. Sie will raus. »Na, dann komm.«
Beim zehnten Versuch. Ich knistere und Lotta öffnet ihre Hand. Erst die rechte, dann die linke. Der Stuhl stützt ihren Rücken und hält ihren Kopf, Lotta hat die Hände frei. Sie muss sich nicht mehr selbst halten, sie kann sich aufs Greifen konzentrieren. Sie knistert. Sie lächelt. »Ist der Stuhl nicht toll?«, frage ich Harry. »Wie schön sie dasitzt.«
Unser Glück hängt an der Passform von Schaumstoff und Metall. Eine zu tief sitzende Kopfstütze bedeutet Schmerzen und Schreien, eine richtig eingestellte Rückenstütze heißt geöffnete Hände und beim Füttern ein weit geöffneter Mund. Wenn Lotta wächst, müssen Kinderwagen und Sitzschale mitwachsen. Alles muss ständig nachgestellt werden. Als unser Reha-Techniker die Firma wechselt, wechseln wir auch. In meiner Handtasche habe ich jetzt immer einen Packen Inbus-Schlüssel.
Lotta steht, sie lächelt, sie tastet. Ein Feuerwerk an Wunderkerzen. Lotta Wundertüte.
Ich habe wieder Hoffnung. Bei einem Kontrolltermin mache ich, was ich nie wieder tun wollte. Ich frage nach einer Prognose: »Wird sie mal auf eine normale Schule gehen können?«
»Denken Sie nicht in so großen Zeiträumen«, rät mir der Arzt. »Bei dem fragilen Gebilde in ihrem Kopf ...«
»Sie meinen ...«
Er zögert. Die Stille, die alles sagt, bevor er es ausspricht: »Es könnte jederzeit eine Ader platzen.« Noch immer schießt Blut in Lottas Kopf am Gehirn vorbei. Ihre Adern sind ausgeleiert. Ich schaue an die Wand hinter ihm. Dort hängt ein Fotokalender, er mit einem Mädchen um die acht Jahre. Beide tragen Sonnenbrille und lachen in die Sonne. »Aber ... «, sagt er. »Andererseits ...« Er langt unter den Tisch und zieht eine Packung Kleenex hervor. »Das Kind kann auch 80 werden.«
Wir haben viele Türen, an die der Tod klopfen könnte: Eine Ader könnte platzen. Eine Embo könnte schiefgehen. Lotta könnte während eines epileptischen Anfalls aufhören zu atmen. Wir mussten nicht mehr den Notarzt rufen, seit Harry in Ägypten war, doch wird das so bleiben? Ben könnte ihr ein Gummibärchen in den Mund stecken. Lotta schluckt ohne zu kauen. Beim Essen verschluckt sie sich häufiger, sie übergibt sich oft. Auch nachts. Ich lasse sie auf der Seite schlafen, mit einem Kissen im Rücken, damit sie sich nicht verschlucken kann. Ich hoffe, ich werde sie immer hören.
»Die Frage ist ja, was wünschen wir
Weitere Kostenlose Bücher