Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
schläft jetzt ein, ich lege sie in ihr Bett und bleibe bei ihr.«
Ich halte vor einer roten Ampel und lege die Stirn ans Steuer.
»Mama?«, fragt Ben von hinten. »Kommt jetzt die Polizei?«
Kann der Ausnahmezustand zur Normalität werden? Wie stark ist mein Gewöhnungsmuskel?
Abends bei dem neuen Italiener. Ich habe mein Handy auf die lauteste Lautstärke gestellt und auf den Tisch direkt neben meinen Teller gelegt. »Auf uns«, sagt Harry und hebt sein Glas.
»Sandra?« Wir drehen uns um. Hinter uns stehen Melanie und Steffen. »So ein Zufall!«
Küsschen rechts, Küsschen links. »Wie geht es euch? Wie geht’s den Jungs?«
»Oh, toll! Noah fährt jetzt auch Laufrad. Unglaublich, wie schnell sie groß werden, oder?«
Wir nicken.
Melanies Gesichtsausdruck wechselt von fröhlich zu betroffen. »Und bei euch? Wie geht es der armen kleinen Lotta?« Sie drückt meine Schulter. Steffen steht daneben, als wäre er auf einer Beerdigung.
Harry und ich schauen uns an. »Super!«, sagen wir wie aus einem Mund.
Wir machen noch eine Embo. Die fünfte. Ein Tag ohne Anfall, zwei Tage ohne. »Nichts!«, jubele ich, als Feldkamp reinkommt. Es ist genau der Effekt, den wir uns erhofft haben, zusammen mit den Ärzten. Wenn ihr Gehirn entlastet wird und nicht mehr so viel Blut daran vorbeirauscht, lässt sich Lotta medikamentös besser einstellen. Weniger Stress im Gehirn gleich weniger Anfallsbereitschaft. »Versprechen können wir nichts«, hat Brassel gesagt. »Aber wir können hoffen.«
»Nun warten Sie mal ab«, sagt Feldkamp.
Die Anfälle kommen zurück, aber sie werden seltener und kürzer. Dreißig Sekunden, eine Minute. Kein Diazepam mehr. Kein Blaulicht. »Meinst du, man kann sich wirklich an alles gewöhnen?«, frage ich Harry.
Er hat mit seiner Chefin gesprochen. Er nimmt eine Auszeit, einen Monat lang. »Vier Wochen zu Hause und schon glauben Männer, sie sind Helden«, sagt Clara.
»Viel ist das ja nicht«, sage auch ich.
»Frauen – niemals zufrieden«, sagt Harry und küsst mich. »Lass uns doch erst mal versuchen, wie es klappt. Und dann sehen wir weiter.«
Morgens bringt er Ben in den Kindergarten und kommt dann zurück. Ich drücke ihm Lotta in den Arm. »Und was mache ich jetzt?«
»Tu mal wieder was für dich«, sagt Harry. »Geh mal wieder zum Sport oder schreib mal wieder was.« Ich streichele Lotta auf seinem Arm. »Geh!«, sagt er. »Du musst auch mal abgeben lernen.«
Ich rufe in Hamburg an. »Mein Büro ist wieder geöffnet.« Ich nehme den ersten Auftrag an: das Porträt einer angehenden Ärztin mit zwei kleinen Kindern. Thema: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
»Machst du’s?«
»Genau mein Thema.«
Nachmittags stehe ich auf dem Stepper im Fitnesstudio, in den Ohren weiße Kopfhörer, vor mir eine Reihe Fernseher, die alle auf einen Musikkanal geschaltet sind. Britney, Madonna. Ich trete und trete und denke zu viel. Wird Lotta jemals fühlen, wie schön Bewegung sein kann? Wie das Herz hämmert? Wie es den Kopf befreit?
»An deiner Stelle würde ich mich einfach ins Bett legen und den ganzen Tag nicht mehr aufstehen«, sagt Nina am Telefon.
»Dann hätte ich zu viel Zeit zum Nachdenken. Das halt ich nicht aus.«
Zum Arzt gehe immer noch ich. Ich ziehe Lotta an, ich koche Mittagessen. Doch Harry geht morgens zur Physio, füttert mittags eine Stunde, sitzt nachmittags im dunklen Schlafzimmer und leuchtet mit der Taschenlampe auf eine winzige Diskokugel. Abends hört er nicht auf zu reden. Er auf der Couch, ich am Esstisch vor dem Computer. »Und dann hat sie die Augen aufgerissen und ich glaube, sie hat richtig gesehen, wie sich die Kugel dreht ...«
»Warte«, sage ich und tippe. »Lass mich das eben noch zu Ende machen.«
Wir haben die Sätze getauscht.
»Wie die starren, man fühlt sich ja wie im Zoo.«
»Ich muss das nur noch schnell abschicken.«
»Heute hat sie nur geschrien, keine Ahnung, wieso.«
»Mmmh.«
»Ich habe ein Foto gemacht, wie sie bei Frau Kniep auf dem Bauch lag, willst du mal sehen?«
»Gleich, ja?«
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Klar.«
Ich tauche ab und tauche nur wieder auf, wenn Harry ruft: »Komm mal ganz schnell!« Lotta krampft und wir sitzen gemeinsam vor unserem Kind auf dem Boden. Harry streichelt ihren Kopf, ich ihren Rücken. »Mama ist ja da.« »Papa ist ja da.« Mit Valium in der Hand und einem Loch in der Brust.
»Wenn nur die Anfälle nicht wären ...«, sagt Harry später. »Dann wäre es eigentlich ganz
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