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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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wenn ich ihr in der Eisdiele Schokoladeneis anbiete. Wie sie still hält, wenn Ben sich auf sie schmeißt. Wie sie begraben unter seinem Gewicht über seine Schulter lächelt. Wie sich ihre Haare locken, wenn sie frisch gewaschen sind. Wie sie zwei ganze Teller voller pürierter Nudeln mit Lachs isst und danach immer noch mehr will. Wie ihre blauen kalten Füße rot werden, wenn ich sie massiere. Wie sie abends Harry vor der Tür schon hört und lächelt, bevor ich ihn höre. Wie sie ihre Beine durchstreckt auf der Schaukel. Wie sie ihren Kopf vorreckt, wenn ich mich neben sie lege, Stirn an Stirn, und sie versucht, mich in die Nase zu beißen. Wie sie meine Haare in ihrer kleinen Faust zu fassen kriegt und nicht mehr loslässt, bis einer kommt, um mir zu helfen. Wie tief ihre Grübchen sind, wenn sie lächelt. Wie sie in der Badewanne im Wasser schwebt wie schwerelos. Wie ich sie gestillt habe. Wie sie in meinem Bauch war.
    Die Betäubung ist weg, schon viel zu lang. Ich hocke auf grauem Linoleum, es riecht nach Desinfektionsmittel, ich höre Nina, die sagt: »Was, wenn ich ihn nicht lieben kann?«
    Ich kann es. Und es zerreißt mich.

    »Entschuldigung! Kann ich Ihnen weiterhelfen?« Eine Schwester in einem Glaskasten, die Anmeldung der Radiologie. Sie beugt sich über den Tresen.
    Ich wische mir das Gesicht ab. »Meine Tochter ... Meine Tochter ist da drin.« Ich zeige auf die Tür.
    »Dann warten Sie bitte draußen, ja?« Sie zeigt auf den Warteraum, wo ich mit Harry stand. Ich stehe auf und gehe benommen auf die Glastür zu. Es sitzt eine Frau dahinter, ein Baby auf dem Schoß. Ich drehe mich um, gehe zurück und lasse mich still wieder die Wand runtergleiten.
    Eine andere Schwester berührt mich am Arm. »Möchten Sie vielleicht da drin warten?« Sie zeigt auf einen Umkleideraum, die Durchgangsschleuse zum Röntgen. Sie bringt mir eine Packung Kleenex-Tücher. Ich setze mich auf eine schmale Bank. Den Kopf in den Händen. Ich stehe wieder auf. Ich kann auch hier nicht bleiben. Hier würde ich nicht sehen, wenn sie wieder rauskommt. Ich wische mir die Tränen ab. Reiß dich zusammen.

    Währenddessen rast Harry über eine Schotterpiste von Straße nach Kairo. Sie haben einen Fahrer gefunden, der ihn fährt. Geri hat alles organisiert. Er übernimmt die Drehs, die noch anstehen. »Ich dachte, ich überlebe diese Fahrt nicht«, wird Harry später erzählen. Die nächste Maschine geht erst am Abend. »Komm nicht zu mir«, werde ich zu Harry sagen. »Geh zu Ben.«

    Jodi und ich müssen uns knapp verpasst haben. Als wir später telefonieren, sagt sie: »Nun machen Sie sich mal keine Sorgen um Ben, ich bin da und ich bleibe so lange, wie es nötig ist.« Sie weiß, wo Bens warme Socken sind, sie weiß, wie sie ihn dazu kriegt, sie anzuziehen, sie ist der Alltag, den er jetzt braucht. Sie gibt ihm den Halt, den ich ihm jetzt nicht geben kann. Lotta oder Ben. Oder – nicht und. Ich wollte, ich könnte mich in zwei teilen. »Danke«, sage ich und will doch viel mehr sagen. »Danke.«

    Dr. Waltz kommt aus dem MRT-Raum, ein Lächeln im Gesicht. Lotta stirbt nicht an diesem Tag. Es ist keine Hirnblutung. Sie findet wieder heraus.

    Wir nehmen ein zweites Medikament hinzu und bleiben eine Woche auf der Station »Kinderneurologie/Kinderonkologie«. Wie hat Harry mal gesagt? Je weiter oben man im Krankenhaus liegt, desto schlimmer. Wir liegen unter dem Dach. Warum sollte ich mich eigentlich vor dem fürchten, was ich in einer Selbsthilfegruppe sehen könnte? Hier sehe ich auf dem Flur Kinder mit Infusionsständern voller Medikamente, durch die offenen Türen Jugendliche, die im Bett liegen und stöhnend den Kopf hin und her schmeißen. Kinder ohne Haare, die »Mensch, ärger dich nicht« spielen. Behinderte Kinder, die »Wilde Kerle« auf DVD gucken. Eltern, die lachen. Schwestern, die Witze machen. Ärzte, die sagen: »Wie schön, dich mal wieder zu sehen, Alex!« Alles nur Gewöhnung. Alltag. Ist eben so. Na und?
    Wie lang ist es her, dass ich in unruhigen Nächten von Frühchen in ihren Glaskästen geträumt habe? Vielleicht ist Gewöhnung ein Muskel, den man trainieren kann. Wenn man einmal entdeckt hat, wie viel Schönheit auch in den Dingen liegt, vor denen wir uns fürchten – geht es dann beim nächsten Mal schneller? Lernt das Auge, nach dem zu suchen, was rührend ist, was lustig, was hübsch – anstatt bei dem zu verweilen, was erschreckend ist? »Du solltest mal wieder ›Alien‹ gucken«, sagt Harry.
    Wir

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