Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe 2012 zu bedenken gibt: »Der Umgang mit einer derartig unüberschaubaren Fülle an Detailinformationen und Risikokonstellationen in der pränatalen Situation muss von der Wissenschaft, Medizin und der Gesellschaft sorgfältig erörtert werden.«
Wir können viel. Verleitet es uns dazu zu denken, wir könnten alles?
Es wird immer Kinder geben, die auf die Straße rennen, ohne zu schauen, die kopfüber ins Nichtschwimmerbecken springen. Zu wenig Luft während der Geburt, ein Herpes, der aufs Gehirn schlägt, ein Zeckenbiss. Später Schlaganfälle, Wiederbelebung nach einem Herzinfarkt, ein Sturz mit dem Fahrrad. Es müssen gar nicht die Grenzen des menschlichen Wissens sein, die letzten Geheimnisse der DNA, die uns zeigen, dass wir nicht alles kontrollieren können. Das Leben reicht schon.
Und doch glauben viele, was einige aussprechen: »Das muss doch heute nicht mehr sein.« Aus Schicksal wird eine bewusste Entscheidung der Eltern – oder ein Fehler des Arztes. Irgendwer muss ja schuld sein. Solange einer Schuld hat, sind die anderen in Sicherheit. So lange kann man denken: Mir könnte das nicht passieren. Ich mache alles richtig. Ich passe auf.
Wenn wir viel können – müssen wir alles tun, was wir können? Erwächst aus medizinischen Möglichkeiten der gesellschaftliche Druck, sie auch zu nutzen?
»Ich wusste es früh«, sagt Nina, als sie mich mal wieder in Köln besucht. »Zumindest, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist. Nackenfaltenmessung in der 14. Schwangerschaftswoche.«
»Und?«
»Mein Arzt hat mir geraten, weitere Untersuchungen zu machen, damit wir Gewissheit haben und möglichst früh abtreiben können. Ich will dieses Kind, habe ich gesagt. Egal, was es hat.«
»Warst du dir direkt so sicher?«
»Nein, natürlich nicht. Aber der war sich so sicher. Ich musste Leon doch beschützen.«
Was hätte ich gemacht? Als ich noch keinen Tritt von Lotta gespürt hatte? Als sie noch keinen Namen hatte?
»Im neunten Monat«, sage ich einer anderen Mutter, als sie fragt, wann das denn festgestellt wurde.
»War es da schon zu spät?«, fragt sie.
Muss man sich rechtfertigen, wenn man sein komplett lebensfähiges Kind im neunten Monat nicht tötet?
Natürlich gibt es auch die anderen. Die Männer erzählen immer von ihrem Zivildienst. Im Altenheim, im Behindertenwohnprojekt. »Wir hätten auch alles genommen«, sagt mir eine Mutter aus Bens Kindergarten. »Für uns war von Anfang an klar, wir machen keine Tests.«
»Da warst du mutiger als ich«, sage ich. »Ich habe viele Tests gemacht.« Und Harry war beim Bund.
Ich habe meine Tochter nicht aufgrund moralischer Überlegungen bekommen oder aus ethischen Gründen. Nicht, weil der Arzt nicht aufgepasst hat oder weil wir es zu spät erfahren haben. Ich wollte nicht die Gesellschaft ändern und ich war nicht zu unvorsichtig. Ich wollte kein politisches Statement zur Welt bringen, ich wollte mein Baby. Ich habe meine Tochter bekommen, weil ich sie nicht töten konnte. Weil ich sie schon damals geliebt habe.
Wann fing diese Liebe an? Hätte sie schon in der zwölften Schwangerschaftswoche gereicht, um die Angst zu besiegen? »Wir hätten uns das nicht getraut, was Nina getan hat«, sagt Harry.
»Meinst du?«, frage ich.
Was wäre gewesen, wenn? Wäre ich mutig genug gewesen? Hätte ich vielleicht gedacht, ich erspare mir und dem Kind so viel Leid? Hätte ich Lottas Leid verhindert und ihr Lachen verpasst? Ihre Liebe?
Ich werde es nie wissen.
19
»Wie schön die Welt wäre, wenn alle behinderte Kinder hätten«
Über die Frage: Schotten wir uns ab?
Ein Raum voller Gymnastikmatten, zwölf Mütter, zwölf Kinder, ein Bällebad so groß wie ein kleiner Hotelpool. Lottas Spielgruppe. Anfang September 2011. Wir haben das Ende der Warteliste erreicht.
Lotta liegt auf meinem Schoß, aus dem Augenwinkel verfolge ich einen kleinen Jungen, etwa zwei Jahre alt. Unsicher schwankt er auf seinen Beinen, seine Mutter immer hinter ihm, die Hände zu ihm gestreckt. Er macht kleine Schritte, mit nach innen verdrehten Knien, er wankt, seine Mutter strahlt.
Habe ich früher Sorge gehabt, dass dies unsere Zukunft sein könnte? Jetzt habe ich Sorge, dass sie es nicht sein könnte.
Der Junge wankt hinter dem Bällebad her, ich sehe nur noch seine dunklen Locken. Plötzlich ist er verschwunden. Die Mutter bückt sich: »Haben Sie was zum Kühlen hier? Murat hatte einen Anfall.« Der Junge kriegt ein
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