Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
ihr?«, sagt Harry.
Es ist Abend, er reicht mir einen Teller aus der Spülmaschine, ich lege ihn auf den Stapel im Hängeschrank. »Ich wünsche mir, dass sie einmal selbstständig leben kann«, sage ich und ärgere mich, dass es trotzig klingt. »Dass sie mal ausziehen kann. Dass sie als Teenager ihre Mutter hassen kann, wie alle Mädchen. Dass sie nicht immer von mir abhängig ist.« Eine Tasse, ein Teller.
»Und wenn nicht? Wenn sie immer auf andere angewiesen bleibt?«, fragt Harry.
Ich schließe den Schrank. Was sollen wir unserer Tochter wünschen – ein langes Leben in Abhängigkeit oder einen schnellen Tod?
Wie ist das, blind zu sein, nicht mal die Kaffeetasse halten zu können, sich nicht alleine aufsetzen zu können, immer um Hilfe bitten zu müssen? Vielleicht nicht einmal »Bitte« sagen zu können? Wie fürchterlich fand ich es, als ich am Ende der Schwangerschaft die Treppe nicht mehr ohne Pausen hochkam. Wie habe ich mich geärgert über einen Körper, der nicht stark genug war, das zu tun, was ich von ihm wollte. Ich habe Lotta das Leben geschenkt – nur was für eins?
Samstagmorgens nach dem Aufwachen, wir vier im Ehebett, Ben kriegt aufgeschäumte Milch, ich Kaffee. Lotta liegt zwischen uns, ihr Kopf auf meinen Knien, ihre Beine über Harrys Beinen. Ben kitzelt sie an den Füßen. »Schau dir dieses Lächeln an!«, sage ich. »Da ist deine Antwort.«
»Ich weiß«, sagt Harry. »Und wenn wir mal nicht mehr sind?«
Will ich, dass Lotta 80 wird? Auch, wenn sie dann vielleicht immer noch gefüttert werden muss? Wer wird sie dann zum Lächeln bringen?
In der Zeitung lese ich von einer Studie bei sogenannten Locked-in-Patienten. Sie sind so vollständig gelähmt, dass sie nur noch per Wimpernschlag mit ihrer Umgebung kommunizieren können, etwa nach einem Schlaganfall. Dann doch lieber tot, oder? Wer möchte so ein Leben? In der Umfrage schätzen sich 72 Prozent der Befragten als »glücklich« ein. 72 – diese Zahl gibt mir sehr viel Kraft.
Ich weiß nicht, wie es ist, mit einer Behinderung zu leben. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man immer Hilfe braucht. Wer sagt mir, dass es so schlimm ist, dass ich meiner Tochter den Tod wünschen sollte? Wer sagt mir, dass man nicht auch unter diesen Bedingungen ein Leben führen kann, das es wert ist, gelebt zu werden? Das glücklich ist? Ist es nicht arrogant anzunehmen, dass jemand, der weniger kann als ich, deshalb automatisch unglücklich ist? Sind denn alle, die laufen, reden, atmen können, deshalb gleich glücklich? Ich habe keine Ahnung. Ich habe kein Recht, Lotta den Tod zu wünschen.
Wovon hängt es ab, ob sie ihr Leben wird genießen können? Davon, was sie kann? Davon, ob sie ihre Hand so weit kontrollieren kann, dass sie selbst nach etwas greifen kann? Dass sie sich verständlich machen kann? Ich arbeite daran, doch was, wenn das Aufgaben sind, die nicht zu schaffen sind?
Wenn sie wenig kann: Von der Qualität der Pflege? Vom Geld? Wie kann ich sicherstellen, dass es Lotta gut geht, wenn ich zu alt werde, um mich um sie zu kümmern?
»Denken Sie nicht in so großen Zeiträumen«, hat der Arzt gesagt.
Wie lebt man damit, wenn man nicht weiß, wie lange das Leben dauert?
»Weiß man das denn jemals«, sagt Clara dazu.
»Nein, natürlich nicht.«
»Eben.«
Neue Vorsätze: Schokokekse, püriert, viel schmusen, viel lachen. Nur noch Therapeuten, die Lotta mag und denen ich vertraue. Ich weiß vielleicht nicht, wie lang Lottas Leben dauern wird, aber ich kann versuchen, es zu einem glücklichen Leben zu machen.
In Duisburg. Vorbesprechung für die nächste Embo. Professor Brassel mustert Lotta auf meinem Schoß: »Na, du!« Er lächelt sie an, sie reagiert nicht. Er seufzt. »Sehen Sie denn schon Fortschritte?«
»Sie lächelt sehr viel. Aber es ist natürlich ein anderes Tempo. Da muss man genauer hinschauen.«
»Ich habe die MRT-Bilder von der Malformation Ihrer Tochter neulich auf einer Konferenz gezeigt, da war Stille im Saal. Da sagt keiner mehr etwas.« Ich schweige. »Wissen Sie, wir haben dort auch über ethische Fragen diskutiert, zum Teil sehr kontrovers. Es gibt auch Kollegen, die sich weigern, Kinder unter dem Alter von drei Monaten zu operieren. Natürliche Auslese. Wer vorher stirbt, für den sei es besser so. Aber können wir das einfach so machen? Und was ist mit den Kindern, die überleben und die nach dieser langen Zeit ohne Behandlung womöglich eine viel stärkere Hirnschädigung davontragen, als sie sonst
Weitere Kostenlose Bücher