Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
gehabt hätten? Darüber müssen wir reden, habe ich gesagt.«
Ich wippe Lotta auf den Knien und frage: »Operieren Sie alle Fälle?«
»Es gab mal einen Fall, den ich eigentlich nicht embolisieren wollte. Schwerste Schädigungen. Keinerlei Chance, dass das Kind nicht schwerstbehindert sein würde. Aber die Eltern haben auf der Operation bestanden.«
»Und dann?«
»Die Eltern lieben ihr Kind und sind wohl sehr glücklich damit geworden. Es ist sehr viel stärker eingeschränkt als Ihres, Frau Roth. Ich persönlich habe mich sehr schwer damit getan damals. Zu dieser Zeit war ich selber noch nicht Vater.«
Wie entscheidet man, welches Kind verdient, gerettet zu werden – und welches nicht? Wie viel Macht in den Händen dieser Menschen liegt. Wie viel davon abhängt, an welche Ärzte man gerät.
Im Bäckereicafé. Ben trinkt Kakao, ich einen Latte macchiato. Die Bedienung: »Die Kleine schaut ja komisch. Was hat sie denn?«
»Die hat eine Sehbehinderung.«
»Aber wussten Sie das nicht vorher?«
»Vor der Geburt, meinen Sie?«
»Ja, aber der große Bruder ist ja ganz normal, oder? Dann konnten Sie ja nichts dafür.«
Hinter der Frage »Was hat sie denn?« steckt oft schon die nächste: Warum gibt es sie denn?
»Wann hat man das festgestellt?«, »Wussten Sie das nicht vorher?«, »Wolltet ihr das so?«, »Habt ihr keine Tests gemacht?« Spinner gibt es immer, habe ich Nina vor einem halben Leben gesagt. Nur dass es keine Spinner sind. Es ist nicht der Penner in der Straßenbahn, es ist die Bedienung im Café, die andere Mutter auf der Bank neben mir auf dem Spielplatz. Es sind mehr, als ich dachte, die annehmen, dass sich ein behindertes Kind verhindern lässt. Und verhindert werden sollte. Die gedankenlos aussprechen, was andere nur denken. Die nicht wissen, dass wir Lotta gerettet haben, mit aufwendigen OPs. Die sie sehen und an Abtreibung denken.
»Du hast dich doch auch gefragt, ob es so gut wäre, wenn Lotta 80 würde. Du hast doch auch mal gehadert«, fragt mich Clara. »Warum wundert es dich, wenn andere das Gleiche tun?«
»Ich bin ihre Mutter und habe trotzdem kein Recht, ihr den Tod zu wünschen. Und noch viel weniger haben das Leute, die nicht mal Lottas Namen kennen.«
Lotta hat sehr hart um ihr Leben kämpfen müssen. Wir haben sehr hart darum kämpfen müssen. Und jetzt zweifelt die Bedienung beim Bäcker ihr Recht darauf an.
Vor Kurzem haben sie im Bundestag über Präimplantationsdiagnostik diskutiert. Soll man befruchtete Eizellen vor dem Einsetzen auf Erbkrankheiten und genetische Schäden überprüfen? Die Abgeordneten haben es sich nicht leicht gemacht. Kann man Eltern, die ein schwer krankes Kind haben, nicht verstehen, wenn sie sich als zweites ein gesundes wünschen? Warum soll es bei solchen Diagnosen möglich sein, einen Embryo im Mutterleib abzutreiben, aber nicht, einen Zellhaufen vor dem Einsetzen in den Mutterleib zu überprüfen?
Welche Krankheiten rechtfertigen eine solche Auswahl? Welche nicht? Wo sollen wir aufhören, wenn wir einmal anfangen? Und was ist mit denen, deren Krankheit oder Behinderung sich nicht vorhersehen ließ?
Eine Abgeordnete sagte, sie wolle nicht, dass Eltern sich in Zukunft für ein behindertes Kind rechtfertigen müssen. Aber ist es nicht längst so weit? Die Bedienung beim Bäcker macht es sich nicht so schwer wie die Abgeordneten. Ihr Urteil steht fest: Das muss doch heute nicht mehr sein. Das kann man doch verhindern. Das sollte man verhindern.
Wir können so viel und wir können immer mehr. 2013 wird es möglich sein, die genetischen Informationen des ungeborenen Kindes komplett zu entschlüsseln. Im Blut der Mutter lässt sich Genmaterial des Fötus finden, das schon in der 12. Schwangerschaftswoche auf das Down-Syndrom überprüft werden kann. Das ist erst der Anfang. Es ist bereits gelungen, alle Erbinformationen komplett zu dekodieren. Die DNA eines ungeborenen Babys zu lesen ist nur noch eine Kostenfrage. Auch bei der künstlichen Befruchtung reicht eine einzige Zelle der befruchteten Eizellen, um an die gleichen Informationen zu gelangen. Wir können alles über die Erbanlagen eines Kindes wissen, bevor die Mutter überhaupt schwanger ist.
Wie viel wollen wir über das Genmaterial unserer Kinder wissen? Wie stark wollen wir eingreifen? Noch können wir nur wenige dieser Informationen deuten, noch birgt die DNA viele Geheimnisse. Nur wenige Behinderungen und Krankheiten sind so schnell zu erkennen wie das Down-Syndrom. Wie die
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