Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
schriftliche Einladung erhalten hatten, in den folgenden Tagen immer nur flüchtig und unter der Hand, so, als sei die Sache der Familie zwischendurch ganz aus dem Gedächtnis entschwunden, und mit einer gewissen abbrechenden Hast die Rede. Daß nur das kammerrätliche Ehepaar, nicht auch ihre Töchter, gebeten war, deutete ebenso wie die Vorschrift des Fracks auf einen mehr als familiären Charakter der Veranstaltung, was mitten in anderen Gesprächen von ungefähr angemerkt wurde, worauf man nach einer Pause, während der die Erfreulichkeit oder Unerfreulichkeit der Feststellung allerseits still erwogen zu werden schien, den Gegenstand wieder wechselte.
Es gab nach langer, durch Briefwechsel nur notdürftig überbrückter Trennung soviel zu berichten, zu gedenken und auszutauschen. Die Schicksale und Zustände von Kindern, Geschwistern und Geschwisterkindern standen zur Erörterung. Manchem Gliede der kleinen Schar, deren Bild, wie Lotte ihnen das Brot austeilte, in die Dichtung eingegangen und zum heiteren Besitz der allgemeinen Anschauung geworden war, blieb nur wehmütig nachzutrauern. Vier Schwestern waren schon in der Ewigkeit, voran Friederike, die Aelteste, eine Hofrätin Dietz, deren fünf hinterbliebene Söhne jedoch allesamt stattliche Lebensstellungen an Gerichten und in Magistraturen einnahmen. Unvermählt war nur die Vierte, Sophie, geblieben, verstorben gleichfalls vor nun schon acht Jahren im Hause ihres Bruders Georg, des prächtigen Mannes, nach dem Charlotte, {372} gewissen Wünschen entgegen, ihren Aeltesten genannt, und der, nachdem er eine reiche Hannoveranerin geheiratet, als Nachfolger seines Vaters selig, des alten Buff, die Amtmannsstelle zu Wetzlar zur eigenen und allgemeinen Zufriedenheit verwaltete.
Überhaupt hatte der männliche Teil jener bildhaft gewordenen Gruppe sich entschieden lebensbräver, zum Ausharren tüchtiger erwiesen, als der weibliche – die beiden älteren Damen ausgenommen, die in Amalie Ridels Stube saßen und über ihren Handarbeiten das Gewesene und Gegenwärtige besprachen. Ihr ältester Bruder Hans, derselbe, der einst mit dem Dr. Goethe so besonders herzlich gestanden und an dem Werther-Buch, als es eintraf, so kindlich-unbändiges Vergnügen gehabt hatte, übte als Kammerdirektor beim Grafen von Solms-Rödelheim eine ansehnlich-auskömmliche Thätigkeit; Wilhelm, der Zweite, war Advokat, und wieder ein anderer, Fritz, stand als Hauptmann in niederländischen Heeresdiensten. Was gab es beim Sticheln und beim Geklapper der Holznadeln über die Brandt-Mädel zu sagen, Annchen und Dorthel, die Junonische? Hörte man von ihnen? Gelegentlich. Dorthel, die Schwarzaugige, hatte nicht jenen Hofrat Cella genommen, über dessen abgezirkeltes Werben der muntere Kreis von damals, voran ein unbeschäftigter Rechtspraktikant, der auch für schwarze Augen nicht unempfindlich gewesen war, sich so derb lustig gemacht hatte, sondern den Dr. med. Heßler, der ihr aber früh durch den Tod war entrissen worden, sodaß sie denn nun lange schon einem Bruder in Bamberg den Hausstand führte. Annchen hieß seit fünfunddreißig Jahren Frau Räthin Werner, und Thekla, eine Dritte, hatte an der Seite Wilhelm Buffs, des Prokurators, ein zufriedenstellendes Leben verbracht.
All dieser wurde gedacht, der Lebenden und der Geschiedenen. Aber so recht belebte Charlotte sich doch jedesmal erst, das zarte Pastellrot, das sie so verjüngend gut kleidete, trat auf {373} ihre Wangen, und sie befestigte mit würdiger Kinnstütze den immer etwas zum Wackeln geneigten Kopf, wenn auf ihre Kinder, ihre Söhne die Rede kam, Leute, die jetzt in den vierziger Jahren und in so stattlichen Lebensverhältnissen standen wie Theodor, der Medizin-Professor, und Dr. August, der Legationsrat. Des Besuches dieser beiden bei ihrer Mutter Jugendfreund auf der Gerbermühle wurde aufs neue erwähnt, – wie denn überhaupt der Name des nahe wohnenden Gewaltigen, dessen Existenz, so hoch sie sich immer abgesondert, mit diesem ganzen Lebens- und Schicksalskreise seit Jugendtagen verflochten blieb, sich, halb vermieden, immer wieder in das Gespräch der Schwestern stahl. Zum Beispiel gedachte Charlotte einer Reise, die sie vor fast vierzig Jahren mit Kestnern von Hannover nach Wetzlar getan, und auf der sie zu Frankfurt die Mutter des flüchtigen Freundes besucht hatten. Sie waren einander so gut geworden, das junge Paar und die Rätin, daß diese sich in der Folge zur Gevatterschaft beim jüngsten Kestner'schen
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