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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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Regnerischen – teils aus allgemeinem Respekt vor dem Anlaß bestellt hatte, hielt vor dem Hause, und die Familie, die am späteren Vormittag einem kalten Frühstück nicht viel Ehre erwiesen hatte, bestieg sie gegen halb drei unter den Augen einiger halb Dutzend klein-residenzlicher Neugieriger, die sich wie zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung unvermeidlich um den wartenden Wagen versammelt hatten, auch von dem Kutscher sich über das Ziel der Fahrt hatten {376} unterrichten lassen. Bei solchen Gelegenheiten begegnet die Bewunderung der Gaffer für die an der Ceremonie stattlich Teilhabenden meistens dem Neide eben dieser auf die Unbeschwerten im Alltagskleide, die nichts damit zu thun haben und sich im Stillen sogar selbst ihres Vorteils bewußt sind, sodaß bei den Einen Geringschätzung mit dem Gefühl »Ihr habt's gut!«, bei den Anderen Hochachtung und Schadenfreude sich mischen.
    Charlotte und ihre Schwester nahmen den hohen Fond ein, Dr. Ridel, den Seidenhut auf dem Schoß, im Frack mit modischen Schulterwülsten und in weißer Binde, ein Kreuzchen und zwei Medaillen auf der Brust, hatte mit seiner Nichte auf der recht harten Rückbank Platz genommen. Auf der kurzen Fahrt, die Esplanade entlang, durch die Frauenthorstraße zum Frauenplan ward kaum ein Wort gewechselt. Eine gewisse Aufsparung persönlicher Lebendigkeit, eine innere Vorbereitung, gleichsam hinter den Kulissen, auf die zu bewährende gesellschaftliche Aktivität herrscht gewöhnlich auf solchen Wegen, und hier gab es besondere Umstände, die Stimmung nachdenklich, ja unbehaglich zu dämpfen.
    Das Verwandtenpaar ehrte Charlottens Schweigen. Vierundvierzig Jahre. Sie hingen dem nach mit teilnehmendem Lebensgefühl, nickten der Lieben von Zeit zu Zeit lächelnd zu und berührten auch wohl einmal streichelnd ihr Knie, was ihr Gelegenheit gab, eine rührende Alterserscheinung, das allerdings ungleichmäßig auftretende, zuweilen verschwindende, zuweilen recht auffallende Wackeln ihres Kopfes in einem freundlichen Zurück-Grüßen aufgehen und sich darin rechtfertigen zu lassen.
    Dann wieder betrachteten sie verstohlen ihre Nichte, deren Distanzierung von diesem ganzen Unternehmen zu Tage lag und offenbar bis zur Mißbilligung ging. Lottchen die Jüngere war dank ihrer ernsten, tugendhaften und opferbereiten Le {377} bensführung eine Respektsperson, deren Zufriedenheit oder Unzufriedenheit ins Gewicht fiel, und die ablehnende Verschlossenheit ihres Mundes war mitbestimmend für die allgemeine Schweigsamkeit. Daß ihre Strenge insbesondere der anzüglichen, jetzt unter einem schwarzen Umhang verborgenen Toilette ihrer Mutter galt, wußten alle. Am besten wußte es Charlotte, und der unwiederholte Beifall ihrer Schwester hatte sie auch nicht ganz über die Vortrefflichkeit ihres Scherzes beruhigen können. Oftmals hatte sie zwischendurch die Lust daran verloren und nur aus Hartköpfigkeit, weil die Idee einmal gefaßt war, daran festgehalten, wobei es ihr zur Beruhigung diente, daß ja nur geringe Vorkehrungen nötig gewesen waren, um ihre Erscheinung von damals wieder herzustellen, denn Weiß war ja ein für allemal ihre notorisch bevorzugte Tracht, auf die sie ein Recht hatte, und nur in den rosa Schleifen, besonders in der an der Brust fehlenden, bestand der Schulmädel-Streich, der ihr denn doch, wie sie da saß, mit ihrer hohen, aschfarbenen, in einen Schleierstreifen gefaßten und in rundlichen Locken zum Halse hängenden Frisur, bei einigem Neide auf die nichtssagende Kleidung der anderen, ein Herzklopfen trotzig-diebischer und erwartungsvoller Freude verursachte.
    Da war der unregelmäßige Kleinstadt-Platz, auf dessen Katzenköpfen die Räder rasselten, die Seifengasse, das gestreckte Haus mit leicht abbiegenden Seitenflügeln, an dem Charlotte mit Amalie Ridel schon mehrmals vorübergegangen war: Parterre, Bel-Etage und Mansardenfenster im mäßig hohen Dach, mit gelb gestreiften Einfahrtthoren in den Flügeln und flachen Stufen zur mittleren Hausthür hinauf. Während die Familie von der Kutsche stieg, gab es vor diesen Stufen schon eine Begrüßung zwischen anderen Gästen, die, aus entgegengesetzten Richtungen zu Fuße herangekommen, hier zusammentrafen: Zwei reifere Herren in hohen Hüten und Pellerinen {378} mänteln, in deren einem Charlotte den Dr. Riemer erkannte, schüttelten dort einem dritten, jüngeren die Hand, der ohne Mantel, im bloßen Frack und nur einen Regenschirm in der Hand, aus der Nachbarschaft gekommen zu sein

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