Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
kugeligen Brust und ihrer gepolsterten Kinderlippen, die von fernen Ländern, von der Begegnung mit berühmten Leuten erzählten, indeß die hübschen Zähne schmelzweiß zwischen ihnen schimmerten. Die Situation erschien ebenso harmlos wie interessant, – das war es, was es Charlotten so leicht machte, längere Zeit ganz zu vergessen, wie sehr sie sich versäumte. Hätte Lottchen, die Jüngere, sich geärgert an diesem Besuch – Sorge um die Seelenruhe der Mutter hätte sie nicht ihren Beweggrund nennen dürfen. Von dieser kleinen Angelsächsin war keine Indiskretion zu besorgen, – sie brachte es nicht so weit. Das war beruhigend und gab dem Zusammensein mit ihr etwas Verführerisches. Sie war es, die sprach, und Charlotte hörte ihr heiter zu. Herzlich unterhalten lachte sie über eine Geschichte, die Rose bei der Arbeit hervorsprudelte: Wie es ihr gelungen war, im Abruzzen-Gebirge einen Räuberhauptmann namens Boccarossa ihrer Galerie einzuverleiben, einen wegen seiner Tapferkeit und Grausamkeit hochgefürchteten Bandenchef, der, von ihrer Auf {47} merksamkeit nicht wenig angetan, auch kindlich erfreut über den kühnen Anblick seines Bildnisses, seine Leute beim Abschied eine Salve aus ihren trichterförmigen Flintenrohren zu Miß Roses Ehren hatte abgeben und sie mit sicherem Geleit aus dem Bereich seiner Übeltaten hatte bringen lassen. Charlotte amüsierte sich sehr über die wilde, und, wie ihr vorkam, ziemlich eitle Ritterlichkeit dieses Skizzenbuch-Genossen. Lachenden Mundes und zu zerstreut, um Erstaunen darüber zu empfinden, daß er plötzlich im Zimmer stand, blickte sie dem Kellner Mager entgegen, dessen wiederholtes Anklopfen in Gespräch und Heiterkeit untergegangen war.
»Beg your pardon«, sagte er. »Ich unterbreche ungern. Allein Herr Doktor Riemer würde es sich zum Vorzug rechnen, der Frau Hofrätin seine Ergebenheit zu bezeigen.«
{48} Drittes Kapitel
Charlotte erhob sich hastig aus ihrem Sessel.
»Er ist es, Mager?« fragte sie verwirrt. »Was gibt es? Herr Dr. Riemer? Was für ein Herr Dr. Riemer? Meldet er mir gar einen neuen Besuch? Was fällt ihm ein! Das ist ganz unmöglich! Welche Zeit haben wir? Eine sehr späte Zeit! Mein liebes Kind«, wandte sie sich an Miß Rose, »wir müssen dies freundliche Beisammensein sofort beenden. Wie sehe ich aus? Ich muß mich ankleiden – und ausgehen. Man erwartet mich ja! Leben Sie wohl! Und er, Mager, sag' er jenem Herrn, daß ich nicht in der Lage bin, zu empfangen, daß ich schon weg bin …«
»Sehr wohl«, erwiderte der Marqueur, indeß Miß Cuzzle ruhig weiter schraffierte. »Sehr wohl, Frau Hofrätin. Allein ich möchte Dero Befehl nicht ausführen, ohne sicher zu sein, daß Frau Hofrätin sich über die Identität des gemeldeten Herrn im klaren sind …«
»Was da, Identität!« rief Charlotte erzürnt. »Will er mich wohl mit seinen Identitäten in Frieden lassen? Ich habe durchaus keine Zeit für Identitäten. Sag' er seinem Herrn Doktor …«
»Absolut!« versetzte Mager unterwürfig. »Unterdessen halte ich es für meine Pflicht, die Frau Hofrätin darüber ins Bild zu setzen, daß es sich um Herrn Doktor Riemer handelt, Friedrich Wilhelm Riemer, den Sekretär und vertrauten Reisebegleiter Seiner Excellenz, des Herrn Geheimen Rates. Es erscheint nicht völlig ausgeschlossen, daß der Herr Doktor vielleicht eine Botschaft …«
Charlotte sah ihm verblüfft, mit geröteten Wangen und merklich zitterndem Kopfe ins Gesicht.
»Ach so«, sagte sie geschlagen. »Aber gleichviel, ich kann diesen Herrn nicht sehen, ich kann niemanden sehen und möchte wahrhaftig wissen, Mager, was er sich denkt und wie er {49} sich's vorstellt, daß ich den Herrn Doktor empfangen soll! Er hat Miß Cuzzle hier bei mir eingeschwärzt, – will er, daß ich auch Doktor Riemers Besuch im Négligé und in der Unordnung dieses Gastzimmers entgegennehme?«
»Dazu«, versetzte Mager, »besteht keinerlei Notwendigkeit. Wir verfügen über ein Parlour, einen Parlour-room in der ersten Etage. Ich würde, die Zustimmung der Frau Hofrätin vorausgesetzt, den Herrn Doktor ersuchen, sich dort zu gedulden, bis Frau Hofrätin Dero Toilette geendigt haben und dann um die Erlaubnis bitten, Frau Hofrätin ebenfalls auf einige Minuten dorthin zu geleiten.«
»Ich hoffe«, sagte Charlotte, »es sind nicht Minuten gemeint, wie die, die ich diesem charmanten Frauenzimmer gewidmet habe. – Mein liebes Kind«, wandte sie sich an die Cuzzle, »Sie sitzen und
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