Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
herauskam; denn die Zeit, das war das Leben, das Werk, welche an diesem Stirngestein durch die Jahrzehnte gemetzt, diese einst glatten Züge so ernstlich durchmodelliert und ergreifend eingefurcht hatte, – Zeit, Alter, hier waren sie mehr als Ausfall, Bloßlegung, natürliche Mitgenommenheit, die hätte rühren und melancholisch stimmen können; sie waren voller Sinn, waren Geist, Leistung, Geschichte, und ihre Ausprägungen, sehr fern davon, bedauerlich zu wirken, ließen das denkende Herz in freudigem Schrecken klopfen.
Goethe war damals siebenundsechzig. Charlotte hätte von Glück sagen können, daß sie ihn jetzt wiedersah und nicht fünfzehn Jahre früher, zu Beginn des Jahrhunderts, wo die schwerfällige Beleibtheit, mit der es schon in Italien angefangen, auf ihre Höhe gekommen war. Er hatte diese Erscheinungsform längst wieder abgelegt. Trotz der Steifigkeit des Gehens, die aber auch an manches immer schon Charakteristische erinnerte, wirkten die Glieder jugendlich unter dem ausnehmend feinen und glänzenden Tuch des schwarzen Fracks; seine Figur hatte sich im letzten Jahrzehnt derjenigen des Jünglings wieder mehr angenähert. Die gute Charlotte hatte manches übersprungen, besonders was sein Gesicht betraf, das dem des Freundes von Wetzlar ferner war, als es ihr schien, {388} da es durch Stadien hindurchgegangen, die sie nicht kannte. Einmal war es in mürrische Dickigkeit mit hängenden Wangen verwandelt gewesen, sodaß es der Jugendgenossin weit schwerer gefallen wäre, sich darin zurechtzufinden, als auf seiner gegenwärtigen Stufe. Übrigens war etwas Gespieltes darin, nach dessen Wozu man sich fragte: hauptsächlich durch die Unschuldsmiene schlecht motivierter Verwunderung über den Anblick der wartenden Gäste; aber es schien zudem, alsob der breit geschnittene und vollkommen schöne, weder zu schmale noch zu üppige Mund, mit tiefen Winkeln, welche in der Altersmodellierung der unteren Wangen ruhten, an einer übermäßigen Beweglichkeit litte, einem nervösen Zuviel von rasch einander verleugnenden Ausdrucksmöglichkeiten, und auf eine unaufrichtige Art in der Wahl zwischen ihnen schwanke. Ein Widerspruch zwischen der gemeißelten Würde und Bedeutendheit dieser Züge und dem kindlichen Zweifel, einer gewissen Koketterie und Zweideutigkeit, die sich, bei etwas schräg geneigtem Kopf, darin malten, war unverkennbar.
Beim Hereinkommen hatte der Hausherr mit der rechten Hand nach seinem linken Arm – dem rheumatischen Arm – gefaßt. Nach ein paar Schritten ins Zimmer ließ er ihn los, machte stehen bleibend der Allgemeinheit eine liebenswürdig ceremonielle Verbeugung und trat dann auf die ihm zunächst stehenden Frauen zu.
Die Stimme denn nun – sie war völlig die alte geblieben, der klangvolle Baryton, in dem schon der schmale Jüngling gesprochen und vorgelesen, – es war sehr wunderlich, ihn, um einiges schleppender vielleicht und gemessener – aber etwas Gravitätisches war auch einst schon darin gewesen – aus der Altersgestalt wieder ertönen zu hören.
»Meine lieben Damen«, sagte er, indem er jeder eine Hand reichte, Charlotten die rechte und Lottchen die linke, dann aber sogar ihrer beider Hände zusammenzog und sie zwischen den {389} seinen hielt, – »so kann ich Sie denn endlich mit eigenem Munde in Weimar willkommen heißen! Sie sehen da jemanden, dem die Zeit lang geworden ist bis zu diesem Augenblick. Das nenne ich eine treffliche, belebende Überraschung. Wie müssen unsere guten Landkammerrats sich nicht gefreut haben über so lieb'erwünschten Besuch! Nichtwahr, es muß nicht gesagt sein, wie sehr wir es zu schätzen wissen, daß Sie, einmal in diesen Mauern, an unserer Thür nicht vorübergegangen sind!«
Er hatte »lieb-erwünscht« gesagt, – dank dem halb verschämten, halb genießerischen Ausdruck, den sein lächelnder Mund dabei gehabt, war die zarte Stegreifbildung gar reizend herausgekommen. Daß dieser Zauber sich mit Diplomatie verband, mit einem vorbedachten, die Dinge vom ersten Worte an entschieden regelnden Ausweichen, war Charlotten nur zu deutlich – schon aus der Bedächtigkeit und Überlegtheit seiner Worte war es zu erraten. Im Sinne der Regelung zog er Nutzen daraus, daß sie ihm nicht allein gegenüberstand, sondern mit ihrer Tochter, hielt, alle vier Hände zusammentuend, seine Rede im Pluralischen und sprach auch von sich nicht persönlich, sondern sagte »wir«, zog sich hinter sein Haus zurück, indem er es als denkbar
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