Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Beklemmung des Gastes, mit der er rechnen muß, im Voraus mit, sie steckt ihn gleichsam schon von Weitem an, sodaß auch er, seinerseits, einem Zwang unterliegt, der mit der Mißlichkeit der andern in unzuträgliche Wechselwirkung treten muß. Das weitaus Klügste bleibt es immer, sich völlig natürlich zu geben und zum Beispiel nicht zu glauben, man müsse ihn gleich mit hohen und geistreichen Sujets, etwa gar von seinen eigenen Werken, unterhalten. Nichts ist unratsamer. Vielmehr empfiehlt es sich, ihm von einfachen und konkreten Dingen der eigenen Erfahrung harmlos vorzuplaudern, wobei er denn, der des Menschlichen und Wirklichen niemals satt wird, schnellstens aufzutauen pflegt und in die Lage kommt, seiner teilnehmenden Güte behaglichen Lauf zu lassen. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich bei alldem nicht eine Vertraulichkeit im Sinn habe, die den Abstand außer Acht läßt, in dem er sich von uns allen befindet, und der er denn doch auch wieder, wie manches warnende Beispiel zeigt, ein schnelles Ende zu bereiten weiß.«
Charlotte sah den lehrhaften Getreuen nur blinzelnd an während dieser Rede und wußte nicht, was entgegnen. Unwillkürlich stellte sie sich vor – und fand sich auffallend befähigt, es sich einzubilden – wie schwierig es Fremdlingen, die an Lampenfieber litten, fallen mußte, aus solcher Ermahnung zur Unbefangenheit, Nutzen für ihren Gleichmut zu ziehen. Die gegenteilige Wirkung, dachte sie allgemein, war das Wahrscheinlichere. Persönlich war sie gekränkt durch die Einmischung, die in dieser Maßregelerteilung lag.
»Recht vielen Dank«, sagte sie schließlich, »Herr Hofrat, für Ihre Hinweise. Schon mancher wird Ihnen dankbar dafür gewesen sein. Vergessen wir aber doch nicht, daß es sich in meinem Fall um die Erneuerung einer vierundvierzigjährigen Bekanntschaft handelt.«
»Ein Mensch«, erwiderte er trocken, »der jeden Tag, ja jede {386} Stunde ein anderer ist, wird auch ein anderer geworden sein nach vierundvierzig Jahren. – Nun, Carl«, sagte er zu dem in der Richtung auf die Zimmerflucht vorübergehenden Bedienten, »wie ist die Laune heut?«
»Durchschnittlich jovial, Herr Hofrat«, antwortete der junge Mann. Nur einen Augenblick später, an der Thür stehend, deren Flügel, wie Charlotte das zum ersten Male sah, in die Wand hinein zu schieben waren, verkündigte er ohne viel Feierlichkeit, indem er den Ton sogar gemütlich fallen ließ:
»Seine Excellenz.«
Daraufhin begab Meyer sich zu den anderen Gästen, die aus ihrer zerstreuten Conversation zusammengetreten waren und sich in einigem Abstand von den gesondert vor ihnen stehenden Kestner'schen Damen hielten. Goethe kam bestimmten und kurzen, etwas abgehackten Schrittes herein, die Schultern zurückgenommen, den Unterleib etwas vorgeschoben, in zweireihig geknöpftem Frack und seidenen Strümpfen, einen schön gearbeiteten silbernen Stern, der blitzte, ziemlich hoch auf der Brust, das weiß batistene Halstuch gekreuzt und mit einer Amethystnadel zusammengesteckt. Sein an den Schläfen lockiges, über der sehr hohen und gewölbten Stirn schon dünnes Haar war gleichmäßig gepudert. Charlotte erkannte ihn und erkannte ihn nicht – von beidem war sie erschüttert. Vor allem erkannte sie auf den ersten Blick das eigentümlich weite Geöffnetsein der eigentlich nicht gar großen, dunkel spiegelnden Augen in dem braun getönten Gesichte wieder, von denen das rechte beträchtlich niedriger saß, als das linke, – dies naiv große Geschau, das jetzt durch ein fragendes Aufheben der in sehr feinen Bögen zu den etwas nach unten gezogenen äußeren Augenwinkeln laufenden Brauen verstärkt wurde, einen Ausdruck, als wollte er sagen: »Wer sind denn all die Leute?« – Du lieber Gott, wie sie über das ganze Leben hinweg die Augen des Jungen wiedererkannte! – braune Augen, genau genommen, {387} und etwas nahe beisammen, die aber meistens als schwarz angesprochen wurden, und zwar, weil bei jeder Gemütsbewegung – und wann war sein Gemüt nicht bewegt gewesen! – die Pupillen sich so stark erweiterten, daß ihre Schwärze das Braun der Iris schlug und den Eindruck beherrschte. Er war es und war es nicht. Eine solche Felsenstirn hatte er sonst keineswegs gehabt, – nun ja, ihre Höhe war dem dünnen Zurückweichen des übrigens sehr schön angewachsenen Haares zuzuschreiben, sie war einfach ein Produkt der bloßlegenden Zeit, wie man sich zur Beruhigung sagen wollte, ohne daß rechte Beruhigung dabei
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