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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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ist recht eigentlich das Zeichen des freien Mannes in begünstigter gesellschaftlicher Stellung, und ich habe mir die Freiheit, in den Tag hineinzuschlafen, jederzeit salviert, auch solange ich am Frauenplan domizilierte, – der Hausherr mußte mich darin wohl gewähren lassen, obgleich er selbst, seinem minuziösen, um nicht zu sagen pedantischen Zeitkulte gemäß, seinen Tag mehrere Stunden früher begann, als ich den meinen. Wir Menschen sind verschieden. Der Eine findet seine Genugtuung darin, allen anderen zuvorzukommen und sich am Werke zu sehen, da jene noch schlafen; dem Anderen behagt es, nach Herrenart noch etwas an Morpheus' Busen zu verharren, indeß sich die Notdurft schon placken muß. Die Hauptsache ist, daß man einander duldet, – und im Dulden, das muß man geste {57} hen, ist der Meister groß, sollte einem auch nicht immer ganz wohl werden bei seiner Duldung.«
    »Nicht wohl?« fragte sie beunruhigt …
    »Habe ich ›nicht wohl‹ gesagt?« gab er zurück, indem er, der zuletzt zerstreut im Zimmer umhergeblickt hatte, sie wie angerufen mit seinen etwas glotzenden, weitspurigen Augen ansah. »Es ist einem sogar sehr wohl in seiner Nähe, – hätte wohl sonst ein empfindlich organisierter Mensch wie ich es ausgehalten, neun Jahre lang fast unausgesetzt um ihn zu sein? Sehr, sehr wohl. Gewisse Aussagen verlangen zunächst nach der entschiedensten Steigerung, – um dann einer fast ebenso entschiedenen Einschränkung zu bedürfen. Es ist das Extrem – mit Einschluß seines Gegenteils. Die Wahrheit, verehrteste Frau, genügt sich nicht immer in der Logik; um bei ihr zu bleiben, muß man sich hie und da widersprechen. Ich bin mit diesem Satze nichts weiter als der Schüler des in Rede Stehenden, von dem man gar häufig Aeußerungen vernimmt, die den Widerspruch zu sich selber schon in sich enthalten, – ob um der Wahrheit willen oder aus einer Art von Treulosigkeit und – Eulenspiegelei, das weiß ich nicht, ich kann es jedenfalls nicht beschwören. Ich möchte das Erstere annehmen, da er es ja selber für schwerer und redlicher erklärt, die Menschen zu befriedigen als sie zu verwirren … Ich fürchte abzukommen. Für meine Person diene ich der Wahrheit, wenn ich das außerordentliche Wohlgefühl feststelle, dessen man an seiner Seite genießt, – indem man zugleich das beklommene Gegenteil davon zu vermerken hat, ein Unbehagen des Grades, daß man auf seinem Stuhle nicht sitzen kann und versucht ist, davon zu laufen. Teuerste Frau Hofrätin, das sind Widersprüche, die festhalten, neun Jahre festhalten, dreizehn Jahre festhalten, weil sie sich aufheben in einer Liebe und Bewunderung, die, wie es in der Schrift heißt, höher ist als alle Vernunft …«
    Er schluckte. Charlotte schwieg, da sie ihn erstens weiter {58} sprechen zu lassen wünschte und zweitens damit beschäftigt war, seine zugleich zögernden und drängend-bedrängten Nachrichten von Weitem mit ihren Erinnerungen zu vergleichen.
    »Was seine Duldsamkeit angeht«, begann er wieder, »um nicht zu sagen: seine Läßlichkeit – Sie sehen, ich habe meine Gedanken beisammen und bin weit entfernt, den Faden zu verlieren –, so gilt es wohl, zwischen einer Toleranz zu unterscheiden, die aus der Milde kommt, – ich meine aus einem christlichen – im weitesten Sinne christlichen – Gefühl für die eigene Fehlbarkeit, das eigene Angewiesensein auf Indulgenz, oder nicht einmal das, ich meine im Grunde: die aus der Liebe kommt – und einer anderen, die der Gleichgültigkeit, der Geringschätzung entspringt und härter ist, härter wirkt als jede Strenge und Verdammung, ja, die unerträglich und vernichtend wäre, sie käme denn von Gott, – in welchem Falle ihr aber nach allen unseren Begriffen die Liebe unmöglich fehlen könnte, – und das tut sie tatsächlich denn wohl auch nicht, es mag in der Tat so sein, daß Liebe und Verachtung in dieser Duldsamkeit eine Verbindung eingehen, die an Göttliches zum Mindesten erinnert, woher es denn kommen mag, daß man sie nicht nur erträgt, sondern sich ihr hingibt zu lebenslanger Hörigkeit … Was wollte ich sagen? Würden Sie mich erinnern, wie wir auf diese Dinge kamen? Ich gestehe, daß ich für den Augenblick nun dennoch den Faden verloren habe.«
    Charlotte sah ihn an, der, die Gelehrtenhände über dem Knopf seines Stockes gefaltet, sich mit seinen bemühten Rindsaugen im Leeren verlor, und erkannte plötzlich klar und deutlich, daß er garnicht zu ihr, nicht um

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