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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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der Mensch gehört ja grundsätzlich mit erheblichen Teilen seines Wesens der Natur, mit anderen aber und, man kann sagen: entscheidenden der Welt des Geistes an, sodaß man mit einem etwas lächerlichen Bilde, welches jedoch das Apprehensive der Sache recht gut zum Ausdruck bringt, sagen könnte, wir stünden mit einem Bein in der einen und mit dem anderen in der anderen Welt, – eine halsbrecherische Stellung, deren Schwierigkeit das Christentum uns am tiefsten und lebhaftesten empfinden gelehrt hat: man ist Christ, indem man sich von dieser ängstlichen und oft beschämenden Situation die klarste Rechenschaft gibt und sich nach Befreiung aus den natürlichen Banden ins Reine, Geistige sehnt. Christentum ist Sehnsucht, – ich glaube mit dieser Bestimmung nicht fehlzugehen. Ich komme scheinbar vom Hundertsten ins Tausendste – lassen Sie sich davon nicht beunruhigen! Ich vergesse über dem Tausendsten das Hundertste nicht, noch auch das Erste, und halte den Faden fest in der Hand. Denn da haben wir nun das erwähnte Phänomen der Größe, des großen Menschen, – welcher in der Tat ebenso sehr Mensch als groß ist, insofern jener Segensfluch, jene apprehensive menschliche Doppelsituation in ihm zugleich auf die Spitze getrieben und aufgehoben erscheint, – ich sage aufgehoben in dem Sinne, daß von Sehnsucht und dergleichen Hungerleiderei hier gar die Rede nicht sein kann und die Segenskombination ›oben vom Himmel herab und von der Tiefe, die unten liegt,‹ jedes fluchhaften Einschlages {91} entbehrt, zur Formel wird einer, ich will nicht sagen: demutlosen, aber ungedemütigten und absolut vornehmen Harmonie und Erdenseligkeit. In dem großen Menschen kulminiert das Geistige, ohne daß irgendwelche Feindseligkeit gegen das Natürliche ihm anhaftete; denn der Geist nimmt in ihm einen Charakter an, zu dem die Natur Vertrauen hat wie zum Schöpfergeist selbst, weil er auf irgend eine Weise mit diesem verbunden, ein dem Schöpferischen vertrauter Geist ist, der Bruder der Natur, dem sie willig ihre Geheimnisse offenbart; denn das Schöpferische ist das traulich geschwisterliche Element, das Geist und Natur verbindet und worin sie eines sind. Dies Phänomen des großen Geistes, der zugleich der Liebling und Vertraute der Natur ist, dies Phänomen unchristlicher Harmonie und Menschengröße – Sie werden begreifen, daß es einen nicht neun, nicht vierzehn Jahre, sondern eine ganze Ewigkeit zu fesseln imstande ist und daß kein Mannesehrgeiz, mit dessen Erfüllung der Verzicht auf seinen Umgang verbunden wäre, sich dagegen zu behaupten und am Leben zu erhalten vermag. Ich sprach von süßer und bitterer Ehre – ich erinnere mich diese Unterscheidung statuiert zu haben. Aber welche Ehre könnte süßer sein, als der Liebesdienst an diesem Phänomen, als die Begnadung, an seiner Seite zu leben und täglich seinen Anblick zu schlürfen, – unabgesetzt, vom ersten Zug verführt? Fragten Sie nicht, ob man sich wohl fühle bei ihm? Ich glaube mich dunkel zu erinnern, daß des exzeptionellen Wohlseins Erwähnung geschah, das seine Nähe einflößt und das denn doch mit einiger Apprehension und Beklommenheit verbunden sei, sodaß man es zeitweilig auf seinem Stuhle nicht aushalte und davon laufen möchte … Jetzt erinnere ich mich genau an den Zusammenhang, – wir sprachen davon aus Anlaß seiner Duldsamkeit, seines Geltenlassens, seiner Konzilianz – ich glaube, daß dieser Ausdruck fiel, der aber insofern irreführend ist, als man dabei an Milde und Christentum und dergleichen denken {92} könnte, was eben irrig wäre und zwar, weil die Konzilianz kein Phänomen für sich bildet, sondern ihrerseits zusammenhängt mit der Einerleiheit von All und Nichts, von Allumfassung und Nihilism, von Gott und Teufel, – sie ist tatsächlich das Erzeugnis dieser Einerleiheit und hat daher mit Milde nichts zu tun, sondern läuft vielmehr auf eine ganz eigentümliche Kälte, einen vernichtenden Gleichmut hinaus, auf die Neutralität und Indifferenz der absoluten Kunst, teuerste Frau, die ihre eigene Partei ist und, wie es im Verschen heißt, ›ihr Sach auf nichts gestellt‹ hat, will sagen: auf umfassende Ironie. Im Wagen sagte er einmal zu mir: ›Ironie‹, sagte er, ›ist das Körnchen Salz, durch welches das Aufgetischte überhaupt erst genießbar wird.‹ Mir blieb nicht nur der Mund offen stehen, sondern es lief mir auch kalt den Rücken hinunter bei diesen Worten; denn Sie sehen einen Mann in mir,

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