Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
mir die Frage zugute, mit bloßer Genauigkeit das Werk der Dichter-Begeisterung?«
»Begeisterung«, wiederholte Riemer. Er nickte längere Zeit schwer und langsam auf seine Stockkrücke und die darauf liegenden Hände hinab. Plötzlich aber hielt er inne und änderte die Bewegung in ein weit nach rechts und links schwingendes Kopfschütteln.
»Sie irren«, sagte er, »er ist nicht begeistert. Er ist etwas anderes, ich weiß nicht, was, etwas höheres vielleicht sogar, sagen wir: er ist erleuchtet; aber begeistert ist er nicht. Können Sie sich Gott, den Herrn, begeistert vorstellen? Das können Sie nicht. Gott ist ein Gegenstand der Begeisterung, aber ihm selbst ist sie notwendig fremd; man kann nicht umhin, ihm eine eigentümliche Kälte, einen vernichtenden Gleichmut zuzuschreiben. Wofür sollte Gott sich begeistern? Wofür Partei nehmen? Er ist ja das Ganze, und so ist er seine eigene Partei, er steht auf seiner Seite, und seine Sache ist offenbar eine umfassende Ironie. Ich bin kein Theolog, verehrteste Frau, und kein Philosoph, aber die Erfahrung hat mich oft zum Nachdenken veranlaßt über die Verwandtschaft, ja Einerleiheit des Alls mit dem Nichts, dem nihil, und wenn es erlaubt ist, von diesem unheimlichen Wort eine Bildung abzuleiten, die eine Gesinnungsart, ein Weltverhalten bezeichnet, so kann man den Geist der Allumfassung mit demselben Recht den Geist des ›Nihilism‹ nennen, – woraus sich ergäbe, daß es ganz irrtümlich ist, Gott und Teufel als entgegengesetzte Prinzipien aufzufassen, daß vielmehr, recht gesehen, das Teuflische nur eine Seite – die Kehrseite, wenn Sie wollen – aber warum die Kehrseite? – des Göttlichen ist. Wie denn auch anders? Da Gott das Ganze ist, so ist er auch der Teufel, und man nähert sich offenbar dem Göttlichen nicht, ohne sich auch dem Teuflischen zu nähern, sodaß einem sozusagen aus einem Auge der Himmel und die Liebe und aus {89} dem anderen die Hölle der eisigsten Negation und der vernichtendsten Neutralität hervorschaut. Aber zwei Augen, meine Teuerste, ob sie nun näher oder weiter bei einander liegen, ergeben einen Blick, und nun möchte ich Sie fragen: was für ein Blick ist es, zu dem und in dem der erschreckende Widerspruch der Augen sich aufhebt? Ich will es Ihnen sagen, Ihnen und mir. Es ist der Blick der Kunst, der absoluten Kunst, welche zugleich die absolute Liebe und die absolute Vernichtung oder Gleichgültigkeit ist und jene erschreckende Annäherung ans Göttlich-Teuflische bedeutet, welche wir ›Größe‹ nennen. Da haben Sie es. Indem ich es ausspreche, glaube ich zu bemerken, daß es dies war, was ich Ihnen zu sagen wünschte von dem Augenblick an, da der Barbier mich von Ihrer Anwesenheit benachrichtigte; denn ich nahm an, daß es Sie interessieren werde, und auch im Interesse meiner eigenen Erleichterung trieb es mich her. Sie können sich denken, daß es keine Kleinigkeit, daß es ein wenig echauffierend ist, mit dieser Erfahrung, im Angesicht dieses Phänomens so alltäglich zu leben, – daß es eine gewisse Überanstrengung bedeutet, – von welcher jedoch sich zu trennen, um nach Rostock zu gehen, wo dergleichen bestimmt nicht vorkommt, allerdings ganz unmöglich ist … Wenn ich Ihnen die Sache näher beschreiben soll – ich glaube es Ihnen anzusehen, daß ich nicht fälschlich Ihr Interesse dafür vorausgesetzt habe und Sie Genaueres von mir darüber zu hören verlangen – kurz, wenn ich noch ein Wort über die Erscheinung verlieren darf, so hat sie mich öfters schon an den Jakobssegen der Schrift, am Ende der Genesis, denken lassen, wo es, Sie erinnern sich, von Joseph heißt, er sei von dem Allmächtigen gesegnet ›mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt‹. Verzeihen Sie, es ist eine nur scheinbar weite Ausbeugung, daß ich auf diese Schriftstelle zu sprechen komme, – ich habe meine Gedanken beisammen und bin weniger als je in Gefahr den Faden zu verlieren. Sprachen wir doch von {90} der Vereinigung der mächtigsten Geistesgaben mit der stupendesten Naivität in einer menschlichen Verfassung und merkten an, daß es diese Verbindung sei, die das höchste Entzücken der Menschheit ausmache. Von nichts anderem ist aber mit jenem Segensworte die Rede. Es handelt sich um den Doppelsegen des Geistes und der Natur – welcher, wohl überlegt, der Segen – aber im Ganzen ist es wohl ein Fluch und eine Apprehension damit – des Menschengeschlechts überhaupt ist; denn
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