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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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von damals voraus hatte. Lächerlich abermals – es waren vierundvierzig. Eine ungeheuere Zeitmasse, das Leben selbst, das lange, einförmige und doch so bewegte, so reiche Leben, – reich, das heißt kinderreich, mit elf mühsamen Segenszeiten, elf Kindbetten, elf Zeiten der nährenden Brust, die zweimal verwaist und nutzlos zurückgeblieben, weil man den allzu zarten Kostgänger wieder der Erde hatte zurückerstatten müssen. Und dann noch das Nachleben von allein schon sechszehn Jahren, die Wittib- und Matronenzeit, würdig verblühend, allein, ohne den Gatten und Vielvater, der schon voran war in den Tod und den Platz neben ihr leer gelassen hatte, – Zeit der Lebensmuße, nicht mehr beansprucht von Tätigkeit und Gebären, von einer Gegenwart, stärker als das Vergangene, von einer Wirklichkeit, die den Gedanken ans Mögliche überherrscht hätte, sodaß denn für die Erinnerung, für alles unerfüllte »Wenn nun aber« des Lebens, für das Bewußtsein ihrer anderen Würde, der außerbürgerlichen, geisterhaften, die nicht Wirklichkeits- und Mutterwürde, sondern Bedeutung und Legende war und in der Vorstellung der Menschen eine von Jahr zu Jahr größere Rolle gespielt hatte, weit mehr Raum und erregende Einbildungskraft war gelassen worden, als in der Epoche der Geburten …
    Ach, die Zeit – und wir, ihre Kinder! Wir welkten in ihr und stiegen hinab, aber Leben und Jugend waren allezeit oben, das Leben war immer jung, immer war Jugend am Leben, mit uns, neben uns Abgelebten: wir waren noch zusammen mit ihr in derselben Zeit, die noch unsere und schon ihre Zeit war, konnten sie noch anschauen, ihr noch die runzellose Stirn küssen, {226} der Wiederkehr unserer Jugend, aus uns geboren … Dieser hier war nicht von ihr geboren, hätte es aber sein können, was sich besonders gut denken ließ, seitdem dahin war, was dagegen sprach, seitdem nicht nur der Platz an ihrer, sondern auch der an der Seite des Vaters, des Jungen von einstmals, leer war. Sie prüfte ihn mit den Augen, die Hervorbringung der Anderen, kritisch, mißgünstig, musterte seine Gestalt, ob sie ihn nicht besser würde in die Welt gesetzt haben. Nun, die Demoiselle hatte ihre Sache passabel gemacht. Er war stattlich, er war sogar schön, wenn man wollte. Ob er ihr ähnlich sah? Sie hatte den Bettschatz nie gesehen. Möglicherweise kam die Neigung zur Dicklichkeit von ihr, – er war zu stark für seine Jahre, wenn auch die Größe es leidlich balancierte: der Vater war schlanker gewesen zu ihrer Zeit, – der verschollenen Zeit, die ihre Kinder noch ganz anders geprägt und kostümiert hatte, schicklich gebundener sowohl, mit den gerollten Puderhaaren und der Zopfschleife im Nacken, wie zugleich auch lockerer, den Hals genialisch offen im Spitzenhemd, – statt des braunlockichten Wuschelhaars, das dem Gegenwärtigen ungepudert, in nachrevolutionärem Naturzustande, die halbe Stirn bedeckte und von den Schläfen als krauses Backenbärtchen in den spitz hochstehenden Hemdkragen verlief, worin das jugendlich weiche Kinn sich mit fast drolliger Würde barg. Unbedingt, würdiger und gesellschaftlich gemessener, ja offizieller gab sich der gegenwärtig Junge in seiner hohen, die Oeffnung des Kragens füllenden Binde. Der braune, modisch weit aufgeschlagene Überrock mit Aermeln, die an den Schultern hochstanden und an deren einem ein Trauerflor saß, umspannte knapp und korrekt die etwas feiste Gestalt. Elegant, den Ellbogen angezogen, hielt er den Cylinderhut, die Oeffnung nach oben, vor sich hin. Und dabei schien diese formelle und allem Phantastischen abholde Tadellosigkeit gegen ein nicht ganz Geheueres, bürgerlich nicht ganz Einwandfreies, wenn auch recht {227} Schönes aufkommen und es in Vergessenheit bringen zu sollen – das waren die Augen, weich und schwermütig, von einem, man hätte sagen mögen: unerlaubt feuchten Glanz. Es waren die Augen Amors, der anstößiger Weise der Herzogin Geburtstagsverse hatte überreichen dürfen, die Augen eines Kindes der Liebe …
    Das genau vererbte Dunkelbraun dieser leicht ungehörigen Augen und ihr nahes Beisammenliegen war es, was – immer noch im Spielraum der Sekunden, in denen der junge Mann hereintrat, sich vorläufig verbeugte und sich ihr näherte – sie plötzlich empfänglich machte für Augusts Aehnlichkeit mit seinem Vater. Es war eine anerkannte Aehnlichkeit und so frappant wie im Einzelnen schwer nachweisbar: gegen eine geringere Stirn, eine schwunglosere Nase, einen

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