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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Überresten vom Vorabend, Kalbfleisch und Schinken, die mit einem Guß aus heller Gallerte umgeben waren, die wie Leim zitterte. Man hatte schon zuviel gegessen. Trotzdem erweckten diese Fleischstücke wiederum die Eßlust, weil man dachte, man dürfe nichts übriglassen. Der Priester in der Mitte des Tisches, der so bedachtsam aß, verspätete sich bei den Früchten, er war bei seinem dritten ungeheuren Pfirsich, den er langsam schälte und zerknirschten Herzens in Scheiben verzehrte.
    Nun ging eine Bewegung durch den Saal: ein Kellner verteilte die Briefschaften, die Frau Majesté hatte.
    »Schau!« sagte Herr Vigneron, »ein Brief für mich! Das ist überraschend. Ich habe niemandem meine Adresse gegeben.«
    Dann fiel es ihm plötzlich ein.
    »Ach ja! Das wird von Sauvageot sein, der meine Stelle im Finanzministerium vertritt.«
    Als er den Brief geöffnet hatte, fingen seine Hände zu zittern an, und er stieß einen Schrei aus.
    »Der Abteilungsvorsteher ist gestorben!«
    Frau Vigneron war bestürzt, sie konnte ihre Zunge nicht im Zaum halten.
    »Dann wirst du jetzt ernannt!«
    Es war ihr heimlicher Traum: der Tod des Abteilungsvorstehers, damit er, der seit zwei Jahren zweiter Vorstand war, endlich zum höchsten Rang, zu seiner Marschallwürde aufrücken könnte. Seine Freude war so groß, daß er alles unbesonnen ausplauderte.
    »Ach, die Heilige Jungfrau ist entschieden mit mir! Heute morgen noch habe ich sie um meine Beförderung gebeten, und sie hat mich erhört!«
    Aber als er den auf seine Augen gehefteten Blicken der Frau Chaise begegnete und seinen Sohn Gustave lächeln sah, fühlte er, daß er nicht in solcher Weise triumphieren dürfe. Sicherlich tat jeder in der Familie sein mögliches und erflehte von der Jungfrau die ihm persönlich nötigen Gnadenbeweise. Er verbesserte sich denn auch, indem er mit der Miene eines braven Mannes sprach:
    »Ich will sagen, daß die Heilige Jungfrau uns alle sehr liebt, und daß sie uns gewiß alle zufrieden entlassen wird. Ach, dieser arme Mann. Er tut mir leid. Es wird notwendig sein, daß ich seiner Witwe eine Karte schicke.«
    Trotz seiner Bemühungen, es zu verbergen, frohlockte er. Er zweifelte nicht mehr, seine geheimsten Wünsche erhört zu sehen, sogar jene, die er sich selbst nicht eingestand. Und der Aprikosentorte wurde große Ehre angetan, sogar Gustave erhielt die Erlaubnis, ein kleines Stück davon zu essen.
    »Es ist seltsam«, bemerkte Herr von Guersaint, der sich eine Tasse Kaffee hatte bringen lassen, »es ist seltsam, daß man hier keine Kranken mehr sieht. Dieser Haufen Leute hat mir wahrhaftig das Ansehen, einen gesegneten Appetit zu besitzen.«
    Schließlich fand er bei genauem Suchen außer Gustave, der nur Krümchen wie ein kleines Huhn aß, einen Kropfigen, der an der großen Tafel zwischen zwei Frauen saß, von denen die eine sicherlich krebskrank war. Etwas weiter saß ein junges, so mageres und blasses Mädchen, daß man es für schwindsüchtig halten mußte. Und noch weiter entfernt sah man eine Idiotin. Sie war, von zwei Verwandten geschützt, eingetreten und verschlang jetzt mit hellen Augen und abgestorbenem Gesicht ihre Speise mit dem Löffel. Vielleicht befanden sich noch andere Kranke da, die man inmitten dieser lärmenden, ihren Hunger stillenden Gesellschaft nicht unterschied, Kranke, die die Reise aufregte und die aßen, wie sie seit langer Zeit nicht gegessen hatten. Die Aprikosentorten, der Käse, die Früchte, alles verschwand, und in der großen Unordnung des Tischgeräts sah man nur noch die Flecken von Brühe und Wein, die sich auf dem Tischtuch ausbreiteten.
    Es war nahezu Mittag.
    »Wir kehren sogleich nach der Grotte zurück, nicht wahr?« sagte Herr Vigneron.
    Von allen Seiten hörte man übrigens den Ruf: »Nach der Grotte! Nach der Grotte!« Die vollen Mäuler beeilten sich, zu den Gebeten und Kirchengesängen zurückzukehren.
    »Wissen Sie«, erklärte Herr von Guersaint, »da wir den Nachmittag vor uns haben, so schlage ich vor, die Stadt ein wenig zu besichtigen, und da meine Tochter es wünscht, will ich versuchen, einen Wagen für meinen Ausflug zu finden.«
    Pierre, dem der Atem verging, war froh, den Speisesaal zu verlassen. In der Vorhalle erholte er sich wieder. Aber dort staute sich ein neuer Strom von Gästen, die auf Plätze warteten. Man stritt sich um die kleinen Tische, die geringste Lücke an der Tafel wurde augenblicklich wieder besetzt. Noch über eine Stunde sollte der Andrang dauern, das

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