Lourdes
Frau, die dort am Gitter kniete, um ihre Knie nicht in den Schnee zu drücken. Sie war jung, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, und sehr hübsch, mit prachtvollen blauen Augen. Sie sprach nichts und schien nicht einmal zu beten. Dennoch verweilte sie mit unendlich trauriger Miene stundenlang in dieser Stellung ... Ich weiß nicht, wer sie war, ich habe sie nie wiedergesehen ...«
Er hörte auf zu sprechen, und als ihn Pierre, erstaunt über sein Schweigen, zwei Minuten später betrachtete, sah er, daß er eingeschlafen war. Die Hände über dem Bauch gefaltet, das Kinn auf der Brust, schlief er mit einem unbestimmten Lächeln den guten Schlaf eines Kindes. Wenn er sagte, daß er hier die ganze Nacht verbrachte, so wollte er damit ohne Zweifel ausdrücken, daß er hierherkam, um als glücklicher alter Mann einen ersten Schlaf zu tun, in dem er den Besuch der Engel erhielt.
Jetzt kostete Pierre den Reiz der Einsamkeit. Es war wirklich wahr, eine süße Empfindung durchdrang die Seele in diesem Felsenwinkel. Sie entstand aus dem Geruch des Wachses und aus dem ekstatischen Schwindel, in den man mitten im Glanze der Kerzen verfiel. Er unterschied weder die Krücken in der Wölbung, noch die an den Wänden aufgehängten Geschenke, weder den Altar aus graviertem Silber, noch das Harmonium in seinem Überzug. Eine langsame Trunkenheit bemächtigte sich seiner und eine wachsende Vernichtung seines ganzen Wesens. Vor allem hatte er die göttliche Empfindung, fern von der Welt, auf den Grund des Unglaublichen und Überirdischen zu sinken, wie wenn das einfache eiserne Gitter den Eingang zur Unendlichkeit selbst verschließen würde.
Ein leises Geräusch beunruhigte Pierre. Es war die Quelle mit ihrem Vogelgezwitscher ähnlichen Rauschen. Ach, wie gerne hätte er auf die Knie fallen und an das Wunder glauben, wie gerne hätte er die Gewißheit besitzen mögen, daß dies göttliche Wasser dem Felsen nur entsprungen sei, um die leidende Menschheit zu heilen! War er nicht gekommen, um der Heiligen Jungfrau zu Füßen zu fallen und sie anzuflehen, daß sie ihm den Glauben, wie ihn kleine Kinder besitzen, wiedergebe? Warum betete er also nicht und warum flehte er nicht inständig darum, daß sie ihm die Gnade erweise? Der Atem verging ihm, die Kerzen blendeten ihn bis zum Wahnsinn. Da kam ihm der Gedanke, daß er in der großen Freiheit, die die Priester in Lourdes genossen, seit zwei Tagen versäumt hatte, seine Messe zu lesen. Er befand sich also im Zustande der Sünde. Vielleicht war es diese Last, die ihm das Herz bedrückte. Diese Vorstellung wurde in ihm zu einer solchen Qual, daß er sich erheben und weggehen mußte. Er begnügte sich, das Gitter leise aufzustoßen, und ließ den Baron Suire schlafend auf der Bank zurück.
Marie hatte sich in ihrem Wagen nicht aus ihrer Stellung bewegt. Sie saß noch immer auf die Ellenbogen gestützt, halb aufgerichtet und hielt das verzückte Antlitz auf die Jungfrau gerichtet.
»Fühlen Sie sich wohl, Marie? Frieren Sie nicht?« fragte der Priester.
Sie antwortete nicht. Er fühlte ihre Hände an, sie waren warm, aber sie zitterten ein wenig.
Er zog das Tuch in die Höhe und entfernte sich. Von einer unsagbaren Unruhe erfaßt, ging er in die Nacht hinaus. Beim Heraustreten aus der lichten Helle der Grotte schien ihm die Nacht schwarz wie Tinte, ein aus Finsternis bestehendes Nichts, in dem er aufs Geratewohl dahintappte. Dann gewöhnten sich seine Augen daran, und er fand sich wieder in der Nähe des Gave, folgte dessen Ufer und ging eine von hohen Bäumen beschattete Allee entlang, in der es wieder dunkel und frisch wurde. Diese Dunkelheit und diese Frische erquickten ihn jetzt, und er empfand nur noch Bestürzung darüber, daß er nicht niedergefallen war und wie Marie mit der ganzen Hingebung seiner Seele gebetet hatte. Was war denn das Hindernis in ihm? War es der unwiderstehliche Aufruhr, der ihn abhielt, sich nach und nach dem Glauben zu überlassen, selbst wenn sein Wesen die Hingabe an den Glauben wünschte? Er verstand, daß seine Vernunft allein Widerspruch dagegen erhob. Er befand sich in einer Stunde, da er sie hätte töten mögen, diese gefräßige Vernunft, die an seinem Leben zehrte und ihn verhinderte, glücklich zu sein, wie unwissende und einfache Menschen glücklich sind. Vielleicht hätte er die Kraft zu glauben gefunden, wenn er ein Wunder gesehen hätte. Wenn sich zum Beispiel Marie mit einemmal erhoben hätte und vor ihm hergegangen wäre, würde er sich
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