Lourdes
macht mir dann Spaß, sie im Winter zu ordnen ... Sie begreifen, man kann sie nicht verbrennen, ohne sie zuvor zu Öffnen, denn sie enthalten oft Geld, Zehn- und Zwanzigsousstücke und namentlich auch Briefmarken.«
Er wühlte in den Briefen herum, nahm aufs Geratewohl einen heraus, zeigte die Aufschrift und entsiegelte ihn, um ihn zu lesen. Fast alle waren Briefe von armen, ungebildeten Leuten, und ihre Adresse zeigte in großen, unregelmäßigen Buchstaben die Worte: »An Unsere Liebe Frau von Lourdes.« Viele enthielten in unrichtigen Redewendungen Bitten oder Danksagungen in einer außergewöhnlichen Orthographie. Manchmal war nichts rührender als die Art dieser Bitten: man bat um einen kleinen Bruder, der gerettet, einen Prozeß, der gewonnen werden sollte, einen Liebhaber, den man zu bewahren, eine Heirat, die man zu schließen wünschte. Andere Briefe lauteten verdrießlich: die Heilige Jungfrau wurde darin ausgescholten, weil sie nicht so höflich gewesen war, einen ersten Brief dadurch zu beantworten, daß sie die Wünsche des Schreibers erfüllte. Dann gab es wieder andere, mit sorgfältig abgefaßten Sätzen, die Bekenntnisse und glühende. Gebete enthielten, – Briefe von Frauen, die der Königin des Himmels das schrieben, was sie keinem Priester im Schatten des Beichtstuhls anzuvertrauen wagten. Ein auf gut Glück geöffneter Briefumschlag enthielt einfach die Photographie eines jungen Mädchens, das Unserer Lieben Frau von Lourdes ihr Bild mit der Widmung zusandte: »An meine gute Mutter.« Kurz, diese Höhlung erwies sich jeden Tag als das Postfach einer sehr mächtigen Königin, die Bittgesuche und vertrauliche Mitteilungen empfing und durch Gnaden und Wohltaten aller Art darauf antworten sollte. Die Zehn- und Zwanzigsousstücke waren einfache, naive Liebesbeweise, um die Heilige zu erweichen. Und die Briefmarken wurden nur der bequemeren Übersendung wegen geschickt, wofern es nicht aus purer Einfalt geschah, wie im Briefe einer Bäuerin. Diese hatte nämlich eine Nachschrift hinzugefügt, worin gesagt war, sie lege eine Marke bei und erwarte eine Antwort.
»Ich versichere Sie«, schloß der Baron, »unter diesen Briefen sind sehr hübsche und weniger sinnlose, als man glauben möchte ... Seit drei Jahren habe ich die äußerst interessanten Schreiben einer Dame gefunden, die nichts tat, ohne es der Heiligen Jungfrau zu erzählen. Die Dame war verheiratet und fühlte die verderblichste Leidenschaft für einen Freund ihres Gatten ... Nun denn, Herr Abbé, sie hat sie besiegt, die Heilige Jungfrau hat ihr dadurch geantwortet, daß sie ihr Rüstung und Schutz für ihre Keuschheit und die göttliche Kraft verlieh, ihrem Herzen Widerstand zu leisten ...«
Da unterbrach er sich und sagte:
»Aber setzen Sie sich doch hierher, Herr Abbé! Sie werden sehen, wie wohl man sich da fühlt!«
Pierre nahm neben dem Baron auf der Bank zur linken Hand Platz, dort, wo der Felsen sich senkte. Es war das in der Tat eine Ecke voll köstlicher Ruhe. Weder der eine noch der andere sprach, und es herrschte ein tiefes Schweigen. Da hörte er hinter seinem Rücken ein unbestimmtes Murmeln, eine feine, kristallhelle Stimme, die aus dem Unsichtbaren zu kommen schien. Er machte eine Bewegung, die der Baron Suire verstand.
»Was Sie hören«, sagte er, »ist die Quelle. Sie befindet sich dort im Boden hinter diesem Drahtgitter. Wollen Sie sie sehen?«
Und ohne abzuwarten, ob Pierre sein Anerbieten annehmen würde, hatte er sich schon gebückt, um einen Riegel zu öffnen. Dabei bemerkte er, wenn man die Quelle derart verschlösse, so geschähe dies aus Besorgnis, die Freidenker könnten kommen und Gift hineinwerfen. Dieser außerordentliche Einfall überraschte den Priester einen Augenblick, aber er schrieb ihn schließlich dem Baron zu, der wirklich viel Kindisches an sich hatte.
Unterdessen mühte sich dieser vergeblich mit dem Buchstabengeheimschloß ab, das nicht aufgehen wollte.
»Das ist seltsam«, murmelte er, »das Wort heißt ›Rom‹, und ich bin ganz sicher, daß man es nicht geändert hat ... Die Feuchtigkeit verdirbt alles. Wir sind genötigt, alle zwei Jahre die Krücken, die in Staub zerfallen, zu erneuern ... Bringen Sie mir doch eine Kerze!«
Als Pierre dem Baron mit einer Kerze, die er von einem Kerzenständer genommen, leuchtete, gelang es endlich, das kupferne, von Grünspan angefressene Geheimschloß zu öffnen. Das geflochtene Drahtgitter drehte sich, und die Quelle wurde sichtbar. Es war ein in
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