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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Kräfte angelangt war. »Das kann nicht so weitergehen, ich kann sie nicht mehr schreien hören ... Wenn Sie wüßten, was ich ihr alles sage: ›Mein Kleinod, mein Schatz, mein Engel! Ich flehe dich an, schrei nicht mehr! Sei lieb, die Heilige Jungfrau wird dich heilen!‹ Aber sie schreit immerzu ...«
    Sie schluchzte, und große Tränen fielen auf das Gesicht des Kindes nieder, dessen Röcheln nicht aufhörte.
    »Wenn es Tag würde, wäre ich schon aus diesem Saal fortgegangen. Eine alte Dame hier hat sich schon beschwert ... Aber ich fürchte, es ist kalt. Und dann, wohin in der Nacht? ... Ach, Heilige Jungfrau, Heilige Jungfrau, erbarme dich unser!«
    Pierre drückte, zu Tränen bewegt, einen Kuß auf Roses blonde Haare. Um nicht mit dieser schmerzbewegten Mutter in Weinen auszubrechen, entfloh er und begab sich geradeswegs in die Rosenkranzkirche, als ob er entschlossen gewesen wäre, den Tod zu besiegen.
    Er hatte die Rosenkranzkirche schon am hellen Tage gesehen, und sie hatte ihm mißfallen, da der Architekt durch den Bauplatz, der an den Felsen anstieß, beengt wurde und die Kirche rund, niedrig, und plattgedrückt mit einer von viereckigen Pfeilern gestützten Kuppelwölbung bauen mußte. Das Schlimmste daran war, daß sie trotz ihres antiken byzantinischen Stils keinen religiösen Eindruck machte. Sie entbehrte des Geheimnisvollen und der Andacht und war einer allzu neuen Getreidehalle ähnlich, die von der Kuppel und den mit Fensterscheiben versehenen breiten Türen grell erleuchtet wurde. Übrigens war sie durchaus nicht vollendet: der ornamentale Schmuck fehlte, und große Stücke der nackten Wand, an die sich die Altäre lehnten, hatten keine andere Verzierung als Rosen aus farbigem Papier und bescheidene Geschenke. Das gab der Kirche das Aussehen eines weiten Durchgangssaals mit gepflastertem Boden, der bei Regenwetter, wie die Fliesen eines Eisenbahnsaals, die Nässe anzog. Der vorläufige Hauptaltar war aus bemaltem Holz angefertigt. Unzählige Bankreihen füllten die mittlere Rundung aus. Sie glichen den Bänken eines öffentlichen Armenhauses, auf denen man jederzeit Platz nehmen konnte, denn die Rosenkranzkirche blieb der Menge der Pilger Tag und Nacht weit geöffnet. Ebenso wie die »Zuflucht« war diese Kirche ein Stall, in dem Gott die Armen aufnahm.
    Als Pierre eintrat, machte die Kirche auf ihn abermals den Eindruck einer jedem zugänglichen Halle. Aber das zu lebhafte Tageslicht überflutete nicht mehr die blassen Wände. Die auf allen Altären brennenden Kerzen leuchteten allein gleich Sternen im ausgedehnten, unbestimmten, unter den Bogenwölbungen schlummernden Schatten. Um Mitternacht war mit außerordentlichem Gepränge ein feierliches Hochamt zelebriert worden, unter der Pracht der Lichter, Gesänge, goldenen Gewänder und der geschwungenen, brennenden Rauchfässer. Von all diesem herrlichen Lichterglanz waren auf den fünfzehn Altären, die im Umkreis standen, nur die vorschriftsmäßig zur Feier der Messen notwendigen Kerzen übriggeblieben. Mitternacht begannen die Messen und hörten bis Mittag nicht mehr auf. In der Rosenkranzkirche allein wurden während dieser zwölf Stunden fast vierhundert gelesen. In ganz Lourdes zählte man über fünfzig Altäre, die Zahl der Messen stieg täglich auf mehr als zweitausend. Und der Andrang der Priester war so groß, daß viele ihre Pflicht nur mit Schwierigkeiten erfüllten, Sie mußten stundenlang anstehen, ehe sie einen freien Altar fanden. Pierre staunte, als er sah, wie diese Nacht alle Altäre von zahlreichen Priestern belagert waren, die in der halben Dunkelheit unten an den Stufen geduldig warteten, bis die Reihe an sie kam, während der amtierende Geistliche die lateinischen Formeln unter großen Kreuzeszeichen eilig hersagte. Die Ermüdung war so niederdrückend, daß der größte Teil der harrenden Priester sich auf die Erde gesetzt hatte, und daß manche von ihnen, von der Anstrengung überwältigt, in einem Haufen beisammen auf den Altarstufen schliefen. Sie war-(?) warteten darauf, daß der Kirchendiener sie wecken würde.
    Einen Augenblick ging Pierre unentschlossen herum. Sollte er warten wie die anderen? Aber das Schauspiel hielt ihn zurück. An allen Altären, bei allen Messen drängte sich eine Flut von Pilgern, die hastig, mit einer Art gierigen Eifers kommunizierten. Die Hostienkelche füllten und leerten sich ohne Unterlaß, und die Hände der Priester ermüdeten beim Austeilen des Lebensbrotes. Er staunte aufs neue,

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