Lourdes
denn niemals hatte er einen Erdenwinkel ausgiebig vom göttlichen Blut betaut gesehen – niemals eine Stelle, von der der Glaube in einer solchen Hingebung der Seelen aufstieg. Das glich einer Rückkehr zu den heroischen Zeiten der Kirche, als die Völker unter dem nämlichen Hauch der Leichtgläubigkeit und im Schrecken ihrer Unwissenheit ihre Knie beugten, als sie sich zu ihrem Glück den Händen des allmächtigen Gottes überlieferten. Er hätte sich acht oder neun Jahrhunderte für die Epochen der hohen öffentlichen Gottesverehrung zurückversetzt halten können, da man an das nahe bevorstehende Ende der Welt glaubte, um so mehr, als die Menge der aufrichtigen Leute, das ganze Gewühl, das dem Hochamt beigewohnt hatte, auf den Bänken geblieben war und sich im Hause Gottes so behaglich fühlte wie im eigenen. Viele besaßen kein Obdach. War die Kirche nicht ihr Haus, die Zufluchtsstätte, in der Tag und Nacht die Tröstung auf sie wartete? Viele, die nicht wußten, wo sie schlafen sollten, die nicht einmal einen Platz in der »Zuflucht« gefunden hatten, gingen in die Rosenkranzkirche und ließen sich auf einer Bank nieder oder streckten sich auf dem Pflaster aus. Wieder andere, die ihr Bett erwartete, blieben aus Freude, eine ganze Nacht in diesem göttlichen Hause voll schöner Träume zubringen zu dürfen.
Bis zum Morgen dauerte der Andrang und das außerordentliche Durcheinander an. Alle Reihen der Bänke waren besetzt, Schläfer lagen in allen Winkeln hinter jedem Pfeiler. Männer, Frauen und Kinder saßen aneinander gelehnt herum, ließen den Kopf auf die Schulter des Nachbars fallen und vermischten in unschuldiger Ruhe ihre Atemzüge. Man schien eine plötzlich vom Schlaf überwältigte und zu Boden geworfene heilige Versammlung, eine zufällig zu einem Heim umgewandelte Kirche zu sehen, deren Tür in der schönen Augustnacht weit offenstand und alle im Finstern Wandelnden eintreten hieß, die Guten und die Bösen, die Müden und die Verlorenen. Und von allen Seiten her, an jedem der fünfzehn Altäre klingelten ohne Unterlaß die Glöckchen, und jeden Augenblick erhoben sich aus dem bunten Gemisch der Schläfer Gesellschaften von Gläubigen, die zur Kommunion gingen und dann zurückkamen, um sich in der Herde ohne Namen und ohne Hirten, die in das Halbdunkel wie in einen Schleier eingehüllt war, wieder zu verlieren.
Pierre fuhrt fort, mit unentschlossener und unruhiger Miene durch diese Gruppen zu irren, als ihn ein alter Priester, der auf der Stufe eines Altars saß, durch eine Handbewegung zu sich rief. Seit zwei Stunden wartete er, und im Augenblick, da er endlich an der Reihe war, fühlte er sich von einer solchen Schwäche befallen, daß er aus Furcht, seine Messe nicht vollenden zu können, es vorzog, seinen Platz an einen anderen Priester abzutreten. Ohne Zweifel hatte ihn der Anblick des gequälten, im Schatten verlorenen Pierre gerührt. Er selbst bezeichnete ihm die Sakristei, wartete noch, bis sein Stellvertreter im Meßgewand und mit dem Kelch zurückkam, und schlief dann auf einer der nächsten Bänke ein. Hierauf las Pierre seine Messe, wie er sie in Paris las: als ehrlicher Mann, der seine Berufspflicht erfüllt. Er bewahrte den äußeren Anschein eines unbedingten Glaubens. Aber nichts rührte ihn, und nichts von dem, was er von den zwei Tagen fieberhafter Aufregung, die er durchlebt hatte, und von der außerordentlichen verwirrenden Umgebung, in der er sich seit dem Vorabend befand, zu erwarten glaubte, griff ihm ans Herz. Er hoffte, es würde ihn im Augenblick der Kommunion, wenn das göttliche Geheimnis sich erfüllt, eine heftige Gemütsbewegung niederwerfen, er würde vor dem geöffneten Himmel Angesicht zu Angesicht mit Gott in Gnade gehüllt werden. Aber nichts zeigte sich, sein eiskaltes Herz schlug nicht einmal. Er sprach die gewohnten Worte bis zum Ende und machte die vorgeschriebenen Bewegungen mechanisch und einwandfrei. Aber trotz seines eifrigen Bestrebens, seine Aufmerksamkeit auf die heilige Handlung zu konzentrieren, kehrte stets eine einzige Idee wieder, nämlich die, daß die Sakristei für eine so ungeheure Anzahl von Messen viel zu klein wäre. Wie könnten die Mesner dazu kommen, die heiligen Gewänder und die Wäsche zu liefern? Dieser Gedanke verwirrte ihn und beschäftigte seinen Geist mit törichter Beharrlichkeit.
Dann war Pierre erstaunt, sich wieder draußen zu befinden. Von neuem wandelte er in der Nacht dahin, in einer Nacht, die ihm noch schwärzer,
Weitere Kostenlose Bücher