Lourdes
dann nicht, endlich besiegt, niedergeworfen haben? Dieses Bild, das er sich von der geretteten, der geheilten Marie machte, erregte ihn so stark, daß er stehenblieb und die zitternden Arme zu dem sternbedeckten Himmel emporstreckte. Ach, großer Gott! Welche tiefe und geheimnisvolle, von Wohlgeruch durchduftete, milde und schöne Nacht! Und welche Freude träufelte nieder in dieser Hoffnung des wiedererlangten ewigen Heils, der ewigen Liebe, die wie der Frühling immer wiedergeboren wird! Dann ging er weiter. Aber seine Zweifel kamen zurück: wenn man ein Wunder verlangt, um zu glauben, so bedeutet das, daß man zu glauben unfähig ist. Gott braucht keinen Beweis seiner Existenz zu erbringen. Dann wurde er bei dem Gedanken, Gott würde ihn nicht erhören, solange er nicht seine priesterliche Pflicht erfüllt und seine Messe gelesen hätte, wieder von Unbehagen ergriffen. Warum ging er nicht sofort in die Rosenkranzkirche, deren Altäre den vorübergehend in Lourdes weilenden Priestern von Mitternacht bis Mittag zur Verfügung standen? Er schritt eine zweite Allee hinab und befand sich wieder unter den Bäumen und im laubbedeckten Winkel, von dem aus er mit Marie die Fackelprozession hatte vorüberziehen sehen. Keine Helle zeigte sich mehr, nur ein Meer von Schatten ohne Grenzen.
Dort erlitt Pierre einen neuen Anfall von Schwäche, und mechanisch, als ob er hätte Zeit gewinnen wollen, trat er in die »Zuflucht der Pilger« ein. Die Tür stand weit offen, ohne dem weiten, mit Leuten angefüllten Saal genügend frische Luft zuzuführen. Gleich bei den ersten Schritten wurde er von der schwülen Hitze, die die zusammengehäuften Leiber ausströmten, vom verdorbenen Geruch des Atems und der Ausdünstungen betäubt. Die rauchigen Laternen warfen ein so schlechtes Licht, daß er Vorsicht anwenden mußte, um nicht auf da und dort liegende menschliche Glieder zu treten, denn der Raum war vollkommen überfüllt. Viele von den Leuten, die auf den Bänken keinen Platz finden konnten, hatten sich auf der Erde, auf den feuchten, seit dem Morgen von Speiseüberresten besudelten Steinfliesen ausgestreckt. Ein namenloses Durcheinander bot sich seinen Blicken dar: Männer, Weiber und Priester, lagen im bunten Gemisch herum, wie sie der Zufall nebeneinander hingeworfen hatte. Niedergestreckt von der unwiderstehlichen Übermüdung, schliefen sie mit offenem Mund. Viele schnarchten sitzend, den Rücken an die Mauer gelehnt, während der Kopf auf der Brust schlenkerte. Andere waren von den Bänken gefallen, und ihre Beine verstrickten sich ineinander: ein junges Mädchen lag quer über einem alten Landpfarrer, der, ruhig wie ein Kind schlafend, den Engeln zulächelte. Es war ein Stall, in den die Armen von der Straße eintraten und den sie als eine vom Zufall gewährte Unterkunft betrachteten. Alle befanden sich darin, die an diesem schönen Festabend kein Obdach hatten und die jetzt brüderlich Arm in Arm eingeschlafen waren. Trotzdem fanden einige von ihnen in ihrer fieberhaften Aufregung keine Ruhe, sie drehten und wendeten und erhoben sich schließlich, um ihre Körbe ganz zu leeren. Dann bemerkte man andere, die unbeweglich blieben und ihre weit geöffneten Augen fest ins Dunkle versenkten. Aufschreie von Träumenden und schmerzhafte Klagen wurden zwischen den Schnarchtönen laut. Diese Herde von elenden Geschöpfen erweckte wirklich ein großes Mitleid, ein dumpfes, beklemmendes Erbarmen stieg von ihnen auf, wie sie so zusammengebrochen, in ihren ekelhaften Lumpen auf Haufen herumlagen, während ihre reinen Seelen ohne Zweifel anderswo, in den blauen Gefilden ihres mystischen Traumes schwebten.
Pierre zog sich zurück, denn es wurde ihm übel. Da hemmte ein ununterbrochenes schwaches Stöhnen seine Schritte, und auf dem nämlichen Platz und in der gleichen Stellung erkannte er Frau Vincent wieder, die die kleine Rose auf ihren Knien wiegte.
»Ach, Herr Abbé!« murmelte sie. »Hören Sie nur! Vor bald einer Stunde ist sie aufgewacht, und seitdem schreit sie ... Aber ich schwöre Ihnen, daß ich keinen Finger gerührt habe, so glücklich machte es mich, sie schlafend zu betrachten.«
Der Priester hatte sich geneigt und untersuchte die Kleine, die nicht die Kraft besaß, auch nur die Augenlider zu öffnen. Ihre Klagen kamen wie der Atem selbst aus dem Mund, und sie war so weiß, daß er zitterte, denn er fühlte das Herannahen des Todes.
»Mein Gott! Was soll ich jetzt tun?« fuhr die gepeinigte Mutter fort, die am Ende ihrer
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