Lourdes
um sie her vorging.
Schwester Hyacinthe hatte Ferrand nicht in dem kleinen Raum der Wäschekammer gefunden, in dem er sich gewöhnlich aufhielt. Seit zwei Tagen geriet der junge Arzt in diesem eigentümlichen Spital, in dem man seine Hilfe nur für die im Todeskampf Liegenden begehrte, mehr und mehr außer sich. Sogar die kleine Apothekerbüchse, die er mitgebracht hatte, erwies sich als überflüssig. Denn man durfte nicht daran denken, irgendwelche Behandlung anzuordnen. Die Kranken waren ja nicht da, um sich unter ärztliche Pflege zu begeben, sondern einfach, um im Blitzstrahl eines Wunders gesund zu werden. Deshalb verteilte er auch fast nur Opiumpillen, die allzu große Schmerzen einschläferten. Er war verblüfft, als er einem Rundgang des Doktors Bonamy durch die Säle beiwohnte. Das war ein einfacher Spaziergang, denn der Doktor kam als Neugieriger und interessierte sich durchaus nicht für die Kranken, die er weder untersuchte noch befragte. Er beschäftigte sich fast nur mit den angeblichen Heilungen, indem er bei den Frauen, stehenblieb, die er kannte, weil er sie in seinem Büro, wo die Wunder beurkundet wurden, gesehen hatte. Eine von ihnen hatte drei Krankheiten, und die Heilige Jungfrau hatte sich bis jetzt nur herabgelassen, eine davon zu heilen, aber für die anderen zwei war gute Hoffnung vorhanden. Wenn er bisweilen eine Unglückliche, die am Abend zuvor geheilt worden war, über ihren Zustand befragte, so antwortete diese, die Schmerzen wären wiedergekommen. Das beeinträchtigte jedoch die Heiterkeit des stets versöhnlichen Doktors durchaus nicht, er stellte es dem Himmel anheim, das zu vollenden, was der Himmel begonnen hatte. War es nicht schon sehr schön, wenn ein Ansatz zu besserer Gesundheit vorhanden war? Deshalb sagte er auch für gewöhnlich: »Es ist ein Anfang da, haben Sie Geduld!« Was er aber hauptsächlich scheute, waren die beständigen Zudringlichkeiten der Pflegedamen, die ihn alle hätten zurückhalten mögen, um ihm außerordentliche Kranke zu zeigen. Jede hatte die Eitelkeit, die ihrem Dienst zugewiesenen Krankheitsfälle für die schwersten zu halten. Die eine hielt den Doktor am Arme fest und behauptete, sie glaube, eine Aussätzige zu haben. Die andere flehte ihn wegen eines jungen Mädchens an, dessen Rücken wie sie sagte, mit Fischschuppen bedeckt sei. Eine dritte wisperte ihm ins Ohr und gab ihm schreckliche Einzelheiten über eine verheiratete Dame aus den besten Ständen. Er entfloh, lehnte es ab, eine einzige von ihnen zu besuchen und versprach endlich, später wiederzukommen, wenn er Zeit hätte. Wenn man auf diese Damen gehört hätte, so wäre, wie er sagte, der Tag unter unnützen ärztlichen Beratungen vergangen. Dann blieb er auf einmal vor einer durch ein Wunder Geheilten stehen, rief Ferrand durch einen Wink herbei und schrie: »Ach, das ist eine interessante Genesung!« Ferrand mußte ihm bestürzt zuhören, wie er die ganze Krankheit, die beim ersten Eintauchen in den Weiher gänzlich verschwunden war, wieder feststellte. Schwester Hyacinthe war dem Abbé Judaine begegnet, und dieser ließ sie endlich wissen, daß man den jungen Arzt im Saal der Haushaltungen begehrte. Zum viertenmal war er des Bruders Isidor wegen hinabgestiegen, dessen Qualen nicht aufhörten. Er konnte ihn nur mit Opium vollstopfen. Der Bruder verlangte nur ein wenig Linderung in seinem Martyrium, um die Kraft zu finden, sich noch diesen Nachmittag zur Grotte zu begeben, wohin er am Morgen nicht hatte gehen können. Aber der Schmerz nahm zu, und er verlor das Bewußtsein.
Als die Schwester eintrat, fand sie den Arzt zu Häupten des Missionars sitzen.
»Herr Ferrand!« rief sie, »kommen Sie schnell mit mir nach oben in den Saal Sainte-Honorine, wir haben dort eine Kranke, die im Sterben liegt.«
Er hatte ihr zugelächelt. Niemals sah er sie, ohne sich erheitert und gestärkt zu fühlen.
»Ich gehe mit Ihnen, Schwester! Aber eine Minute, nicht wahr? Ich möchte diesen Unglücklichen gerne wieder zum Leben bringen.«
Sie faßte sich in Geduld und machte sich nützlich. Auch der Saal der Haushaltungen im Erdgeschoß war ganz vom Sonnenschein erfüllt und von der Luft gebadet, die durch seine drei großen, auf einen engen Garten hinausgehenden Fenster einströmte. Diesen Morgen war außer dem Bruder Isidor nur Herr Sabathier im Bett zurückgeblieben, um ein wenig auszuruhen, während Frau Sabathier einige Einkäufe von Medaillen und Rosenkränzen machte, die zu Geschenken bestimmt
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