Lourdes
Verzögerungen und sehr in Sorge um Frau Vêtu. Trotzdem erregte das Schicksal des Bruders Isidor ihr Mitleid, und im Hinaufgehen forschte sie den Arzt aus. Sie fragte ihn, ob es wirklich keine Hoffnung mehr gebe. Dieser machte eine Gebärde, die ein Todesurteil aussprach. Es war Wahnsinn, in einem derartigen Zustand nach Lourdes zu kommen.
Er verbesserte sich lächelnd.
»Ich bitte Sie um Verzeihung, Schwester! Sie wissen, daß ich das Unglück habe, nicht zu glauben.«
Nun lächelte auch sie, wie eine nachsichtige Freundin, die die Unvollkommenheiten der Menschen erträgt, die sie liebt.
»Oh, das macht nichts. Ich kenne Sie, Sie sind trotzdem ein braver Junge. Und dann sehen wir so viele Leute, wir kommen zu so viel Heiden, daß wir viel zu tun hätten, wenn wir ein Ärgernis daran nehmen wollten.«
Oben im Saal Sainte-Honorine stöhnte Frau Vêtu noch immer unter unerträglichen Schmerzen. Frau von Jonquière und Frau Desagneaux waren bei ihrem Bett geblieben. Sie waren blaß geworden und in tiefster Seele ergriffen von dem Todesstöhnen, das sie unaufhörlich vernehmen mußten. Nachdem sie Ferrand befragt hatten, antwortete er einfach mit einem leichten Achselzucken: diese Frau war verloren, es handelte sich nur noch um Stunden, vielleicht nur um Minuten. Alles, was er tun konnte, bestand darin, auch sie zu betäuben, um ihr den schrecklichen Todeskampf, den er voraussah, zu erleichtern. Sie betrachtete den Arzt, denn sie war noch bei Bewußtsein. Im übrigen zeigte sie sich sehr folgsam und lehnte keine Arznei ab. Wie die anderen, hatte auch sie nur den einen brennenden Wunsch, nach der Grotte zurückzukehren.
Sie brachte diesen Wunsch mit der Stimme eines Kindes vor, das zittert, weil es kein Gehör zu finden fürchtet.
»Nach der Grotte, nicht wahr? Nach der Grotte!«
»Man wird Sie sofort hintragen, ich verspreche es Ihnen«, sagte Schwester Hyacinthe. »Aber Sie müssen vernünftig sein. Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen, um Kräfte zu schöpfen.«
Die Kranke schien einzuschlummern. Frau von Jonquière glaubte deshalb, Frau Desagneaux mit sich nach dem andern Ende des Saales nehmen zu können, wo beide sich anschickten, Wäsche zu zählen. Sie fanden sich aber in der ganzen Zählung nicht zurecht, denn es waren Servietten verschwunden. Sophie war nicht von der Stelle gewichen, sondern auf dem Bett gegenüber der Frau Vêtu sitzengeblieben. Sie hatte die Puppe auf ihre Knie gelegt und erwartete nun, daß die Frau stürbe, weil man ihr gesagt hatte, sie werde sterben.
Im übrigen war Schwester Hyacinthe bei der Todkranken geblieben. Da sie ihre Zeit nicht verlieren wollte, hatte sie Nadel und Zwirn zur Hand genommen, um das Leibchen einer ihrer Kranken auszubessern, das durch die Abnutzung an den Ärmeln aufgerissen war.
»Sie bleiben einen Augenblick bei uns, nicht wahr?« fragte sie Ferrand.
Dieser betrachtete noch Frau Vêtu.
»Ja, ja. Sie kann von einer Minute auf die andere hinweggerafft werden. Ich befürchte einen Bluterguß.«
Als er Marie im nächsten Bett bemerkte, fragte er mit gedämpfter Stimme:
»Wie geht es ihr? Hat sie sich erleichtert gefühlt?«
»Nein, noch nicht. Ach, das liebe Kind! Wir alle hegen für sie die aufrichtigsten Wünsche! So jung, so reizend und so betrübt! Betrachten Sie sie doch in diesem Augenblick! Wie hübsch sie ist! Man könnte sie in all diesem Sonnenschein, mit ihren großen, ekstatischen Augen und ihren goldenen Haaren, die gleich einem Strahlenkranz leuchten, für eine Heilige halten.«
Ferrand betrachtete sie einen Augenblick mit regem Interesse. Sie überraschte ihn durch ihre geistesabwesende Miene, durch die Unbekümmertheit für ihre Umgebung, durch den glühenden Glauben und die innere Freude, die sie zur Sammlung in sich selbst bewog.
»Sie wird genesen«, flüsterte er, als ob er ganz leise eine Prophezeiung ausspräche. »Sie wird genesen.«
Dann näherte er sich Schwester Hyacinthe, die sich in die Nische des geöffneten hohen Fensters gesetzt hatte. Die Sonne begann sich zu wenden, sie glitt nur noch als schmaler goldener Streifen über die weiße Haube und den Brustschleier der Nonne. Ferrand blieb vor ihr stehen, lehnte sich an das Fenstergesims und sah zu, wie sie nähte.
»Wissen Sie, Schwester«, begann er dann, »daß diese Reise nach Lourdes, die ich wie einen Frondienst annahm, um einem Freund gefällig zu sein, einen der seltenen Glücksfälle meines Daseins bilden wird?«
Sie verstand ihn nicht und fragte
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