Lourdes
brennend zu werden, sie stand schon hoch am Himmel, dessen helles Blau den unermeßlichen Umkreis der Berge von einem Rande zum andern überwölbte.
An der Straßenkrümmung erschien auch Lourdes, noch weit entfernt, vor den Augen Pierres und des Doktors Chassaigne. Unter dem glänzenden Morgenhimmel zeichnete sich die Stadt weiß am Horizont ab, unter einem Schleier von fliegendem, goldigen und purpurfarbenen Staub, und mit ihren Häusern und Monumenten, die bei jedem Schritt mehr und mehr hervortraten. Der Doktor zeigte endlich seinem Gefährten mit einer umfassenden, traurigen Gebärde und ohne zu sprechen diese heranwachsende Stadt, als ob er sie zur Zeugin dessen hätte nehmen wollen, was er erzählt hatte. Sie war das Beispiel und der Beweis, der sich im strahlenden Tageslicht selbst darbot.
Schon bemerkte man die zu dieser Stunde und unter dem grünen Laub schwächer gewordene Glut der Grotte. Dann dehnten sich die riesenhaften Bauarbeiten vor ihnen aus: der Quai aus behauenen Steinen, den ganzen Gave entlang, dessen Lauf man hatte ableiten müssen, die neue Brücke, die die neuangelegten Gärten mit dem kürzlich eröffneten Boulevard verband, die riesigen Rampen, die Rosenkranzkirche und die alles beherrschende schlanke Basilika in ihrer stolzen Grazie. In ihrer Umgebung und in dieser Entfernung sah man von der neuen Stadt nur die weißen Fassaden, glitzernde neue Schieferdächer, große Klöster, große Gasthöfe, eine reiche, wie durch ein Wunder aus dem antiken, armen Boden hervorgeschossene Gemeinde, während hinter der Felsenmasse, auf der die einstürzenden Mauern des Schlosses im Profil sich abzeichneten, das verworrene und verdorbene, niedrige Dachwerk der alten Stadt erschien, ein buntes Gemisch von kleinen, durch das Alter zerfressenen Dächern, die sich furchtsam aneinander drängten. Und gleichsam als Hintergrund zu dieser Beschwörung des Lebens von gestern und heute stiegen der Kleine Gers und der Große Gers unter der Pracht des ewigen Himmels auf und versperrten den Horizont mit ihren nackten Flanken, die von den schrägen Sonnenstrahlen streifenförmig gelb und rosa gefärbt wurden.
Doktor Chassaigne begleitete Pierre bis zum Hotel des Apparitions. Erst dort verließ er ihn und erinnerte ihn an die Verabredung, die sie getroffen hatten. Es war noch nicht elf Uhr. Trotzdem zwang sich Pierre, den auf einmal die Müdigkeit überwältigte, zu essen, ehe er sich ins Bett legte. Denn er fühlte wohl, daß dies Bedürfnis viel Schuld an seiner Schwäche hatte. Glücklicherweise fand er einen freien Platz an der Tafel und dort aß er, mit offenen Augen schlafend, ohne zu wissen, was man ihm vorsetzte. Dann stieg er die Treppen hinauf und warf sich auf sein Bett, nachdem er noch die Kraft gefunden hatte, dem Mädchen zu sagen, man solle ihn um drei Uhr wieder wecken.
Als er sich ausgestreckt hatte, hinderte ihn zuerst das Fieber, in dem er sich befand, die Augen zu schließen. Er selbst war sterbenstraurig mit seinen von Ermüdung gebrochenen Gliedern und seinem gequälten Geist. Alles schien sich gegen den guten Willen zu kehren, den Glauben seiner Kindheit wiederzugewinnen. Die tragische Geschichte des Abbé Peyramale hatte die Empörung noch vermehrt, die die Geschichte Bernadettes, der Auserwählten und Märtyrerin, in ihm zurückgelassen hatte. Er war nach Lourdes gekommen, um die Wahrheit zu suchen. Sollte sie denn, statt daß sie ihm den Glauben wiedergab, dazu führen, daß er die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit noch mehr haßte, sollte sie ihm die bittere Gewißheit bringen, daß der Mensch mit seiner Vernunft in dieser Welt allein dasteht?
Endlich schlummerte er ein. Aber Traumbilder flatterten fortwährend durch seinen unruhigen Schlaf. Er sah Lourdes, verdorben durch das Geld, das zu einem Ort der Abscheulichkeit und Sittenverderbnis gewordene, in einen großen Basar umgewandelte Lourdes, in dem man alles verkaufte, Messen und die Seelen. Er sah ferner den toten Kurat Peyramale, der mitten in den Ruinen seiner Kirche unter den Brennesseln lag, die die Undankbarkeit gesät hatte! Erst dann kam er zur Ruhe und kostete die Süßigkeit des Nichtmehrseins, nachdem eine letzte, bleiche und klägliche Vision verschwunden war, das Bild der Bernadette in Nevers, die im Schatten eines bescheidenen Winkels kniete und von ihrem Werke träumte, das sie hienieden niemals schauen sollte.
Vierter Tag
I
Den Rücken an die Kissen gelehnt, war Marie diesen Morgen auf ihrem Bett im Pflegerhaus
Weitere Kostenlose Bücher