Lourdes
Tode nahe, weil man sie derart betrachtete? Eine unendliche Traurigkeit, ein hoffnungsloses Weh erschien in ihren Augen. Es schritt nicht vor bis zur heftigen Empörung, denn sie besaß die Kraft nicht mehr, sich zu wehren, aber welch schreckliches Schicksal war es, daß sie ihren Laden verlassen und ihre Gewohnheiten und ihren Gatten aufgeben mußte, um in so weiter Ferne zu sterben! Der abscheulichen Marter einer solchen Reise Trotz zu bieten, Tag und Nacht zu beten und nicht erhört zu werden, zu sterben, während andere genasen!
Sie konnte nur flüstern:
»Ach, wie ich leide! Ach, wie ich leide! Ich bitte Sie inständig, tun Sie etwas! Machen Sie wenigstens, daß ich nicht mehr leide!«
Die kleine Frau Desagneaux mit ihrem hübschen, von den zerzausten blonden Haaren umfluteten Milchgesicht war aufs tiefste bestürzt. Sie war an den Anblick von Todeskämpfen nicht gewöhnt und hätte, wie sie sagte, die Hälfte ihres Herzens hergegeben, um diese arme Frau zu retten. Sie erhob sich und wandte sich an Schwester Hyacinthe, die gleichfalls zu Tränen gerührt war, aber sich bereits gefügt hatte, da die Kranke zu ihrem Heil eines guten Todes sterben würde. Ließ sich wirklich nichts tun? Konnte man nicht irgend etwas versuchen, wie es die Kranke begehrte? Am gleichen Morgen, zwei Stunden früher, hatte ihr der Abbé Judaine die Letzte Ölung gegeben und die Kommunion gereicht. Sie hatte also die Unterstützung des Himmels, auf ihn allein konnte sie zählen, da sie von den Menschen schon seit langer Zeit nichts mehr erwartete.
»Nein, nein!« rief Frau Desagneaux, »wir müssen uns beeilen.«
Und sie ging, um Frau von Jonquière zu suchen, die bei Maries Bett stand.
»Gnädige Frau«, sagte sie, »hören Sie diese leidende Unglückliche? Schwester Hyacinthe behauptet, sie habe nur noch einige Stunden zu leben. Aber wir dürfen sie nicht ächzen lassen. Es gibt besänftigende Mittel. Warum läßt man den jungen Arzt nicht kommen, der hier ist?«
»Gewiß!« antwortete die Vorsteherin. »Auf der Stelle!«
In den Sälen dachte man niemals an den Arzt. Der Gedanke an ihn kam diesen Damen nur im Augenblick der schrecklichen Krisen, wenn einer von ihren Kranken vor Schmerz heulte.
Schwester Hyacinthe war selber erstaunt, daß sie nicht an Ferrand gedacht hatte, den sie in einer benachbarten Kammer wußte, und sie fragte:
»Wünschen Sie, daß ich Herrn Ferrand hole?«
»Aber ohne Zweifel! Bringen Sie ihn schnell her!«
Als die Schwester fortgegangen war, ließ sich Frau von Jonquière von Frau Desagneaux helfen, um den Kopf der Sterbenden ein wenig zu heben, da sie dachte, dies würde ihr etwas Linderung verschaffen. Gerade diesen Morgen befanden sich die beiden Damen allein, da alle anderen Pflegerinnen ihren Geschäften oder ihren frommen Übungen nachgegangen waren. Im Innern des großen, leeren Saales, den die Sonne mit lauem Zittern erfüllte, hörte man, stets nur auf Augenblicke, das leise Lachen des Kindes, das man nicht sah.
»Ist das Sophie, die diesen Lärm macht?« fragte plötzlich die Vorsteherin. Sie war ein wenig nervös infolge der großen Sorge, die ihr die bevorstehende Katastrophe bereitete.
Lebhaft schritt sie dem Ende des Saales zu, und in der Tat war es die im vorigen Jahre durch ein Wunder geheilte kleine Sophie Couteau, die hinter einem Bett auf der Erde saß und sich trotz ihrer vierzehn Jahre damit belustigte, eine Puppe aus Lumpen zu machen. Sie sprach mit ihr und war so glücklich, so in ihr Spiel verloren, daß sie nach Herzenslust lachte.
»Stehen Sie gerade, mein Fräulein! Lassen Sie sehen, wie Sie Polka tanzen! Eins, zwei! Tanzen Sie und drehen Sie sich und umarmen Sie dann wen Sie wollen!«
Aber jetzt kam Frau von Jonquière dazu.
»Mein Töchterchen«, sagte sie, »wir haben da eine von unseren Kranken, die viel leidet und sich äußerst schlecht befindet. Man darf nicht so laut lachen.«
»Ach, gnädige Frau! Das wußte ich nicht.«
Sie hatte sich erhoben und hielt, ganz ernst geworden, ihre Puppe in der Hand.
»Wird sie sterben?«
»Ich fürchte es, mein liebes Kind!«
Daraufhin atmete Sophie nicht mehr. Sie war der Vorsteherin gefolgt, hatte sich auf ein nahes Bett gesetzt und betrachtete nun mit großen Augen und brennender Neugier die im Todeskampf liegende Frau Vêtu ohne irgendwelche Furcht. Frau Desagneaux wurde unruhig und ungeduldig, weil sie den Arzt nicht kommen sah, während Marie in der frohen Erwartung des Wunders allem entrückt zu sein schien, was
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