Lourdes
waren. Aufrechtsitzend und den Rücken an die Kissen gelehnt, rollte er die Perlen eines Rosenkranzes zwischen seinen Fingern. Aber er betete nicht mehr, sondern heftete in einer Art mechanischer Geistesabwesenheit die Augen auf seinen Nachbar, dessen Krise er mit schmerzlichem Interesse verfolgte.
»Ach, Schwester!« sagte er zur Schwester Hyacinthe, die sich genähert hatte, »dieser arme Bruder erfüllt mich mit Bewunderung. Gestern habe ich einen Augenblick an der Heiligen Jungfrau gezweifelt, weil ich sah, daß sie mich in den sieben Jahren, die ich jetzt schon hierherkomme, nicht zu hören würdigte, und nun hat mich das Beispiel dieses Märtyrers wegen meines geringen Glaubens beschämt... Sie können sich nicht vorstellen, was er leidet, und man muß ihn vor der Grotte sehen mit seinen brennenden Augen. Das ist wirklich sehr schön. Ich kenne nur ein Gemälde eines unbekannten italienischen Meisters im Louvre, auf dem ein Mönchskopf durch eine ähnliche Glaubensinnigkeit geadelt ist.«
Der Verstandesmensch, der mit Literatur und Kunst genährte ehemalige Universitätslehrer zeigte sich wieder in diesem vom Leben niedergeschmetterten Mann, der gewünscht hatte, sich von der Pflegerschaft pflegen zu lassen und nur noch ein Armer zu sein, um den Himmel zu rühren. Er kam jetzt auf sein eigenes Leiden zurück, und in der Zähigkeit seiner Hoffnung, die sieben unnütze Reisen nach Lourdes nicht hatten erschüttern können, fügte er hinzu:
»Ich habe noch den Nachmittag, da wir doch erst morgen abreisen. Das Wasser ist wohl kalt, aber ich werde mich ein letztes Mal baden lassen. Dann bete ich auch seit diesem Morgen und bitte wegen meiner gestrigen Auflehnung um Verzeihung. Nicht wahr, Schwester, der Heiligen Jungfrau genügt eine Sekunde, wenn sie eines ihrer Kinder heilen will? Ihr Wille geschehe und ihr Name sei gebenedeit!«
Er schickte sich wieder an, die Aves und Pater herzusagen, indem er die Perlen des Rosenkranzes langsamer durch die Hand rollen ließ, während sich seine Lider halb schlossen.
Ferrand hatte Martha, die Schwester des Bruders Isidor, durch einen Wink herbeigerufen. Sie stand unten am Fuß des Bettes, ließ die Arme hängen und betrachtete ohne eine Träne und mit der Ergebung eines armen Mädchens von beschränktem Geist den Todkranken, den sie vergötterte. Sie war nur ein ergebener Hund und hatte ihren Bruder, indem sie ihre wenigen ersparten Sous ausgab, begleitet, obgleich sie nichts tun konnte, als ihn leiden zu sehen. Als daher der Arzt zu ihr sagte, sie möchte den Kranken in die Arme nehmen und ein wenig in die Höhe heben, war sie ganz glücklich, endlich zu etwas nütze zu sein. Ihr dickes, trübsinniges, von Sommersprossen bedecktes Gesicht erhellte sich.
»Halten Sie ihn«, sagte der Arzt, »während ich versuchen werde, ihm etwas einzugeben.«
Sie hob ihn auf, und es gelang Ferrand, mit einem kleinen Löffel etliche Tropfen einer Flüssigkeit zwischen seine geschlossenen Zähne einzuführen. Fast sofort öffnete der Kranke die Augen und seufzte tief auf. Er war ruhiger, denn das Opium tat seine Wirkung und schläferte den Schmerz ein, den er in seiner rechten Hüfte wie ein rotglühendes Eisen fühlte. Aber er blieb so schwach, daß man, als er sprechen wollte, das Ohr seinem Munde nähern mußte, um ihn zu verstehen.
Mit einer leichten Handbewegung bat er Ferrand, sich über ihn zu neigen.
»Herr Doktor!« flüsterte er, »Sie sind der Arzt, nicht wahr? Geben Sie mir die Kräfte, daß ich diesen Nachmittag noch einmal zur Grotte gehen kann. Ich habe die Gewißheit, daß die Heilige Jungfrau mich heilen wird.«
»Oh, gewiß werden Sie hingehen«, antwortete der junge Mann. »Fühlen Sie sich nicht viel besser?«
»Viel besser? O nein! Ich weiß sehr wohl, was mir fehlt, weil ich drunten am Senegal mehrere Kameraden sterben sah. Wenn die Leber angegriffen ist und die Eiterbeule nach außen aufbricht, dann ist es vorbei. Heftiger Schweiß tritt ein, Fieber, Delirium. Aber wenn die Heilige Jungfrau das Übel mit ihrem kleinen Finger berührt, so wird es geheilt. Oh, ich bitte Sie alle inständig, lassen Sie mich zur Grotte tragen, selbst wenn ich mein Bewußtsein nicht mehr haben sollte!«
Auch Schwester Hyacinthe hatte sich über den Kranken geneigt.
»Sorgen Sie sich nicht!« sagte sie. »Man wird Sie nach dem Frühstück zur Grotte bringen, und wir alle werden für Sie beten.«
Endlich konnte sie Ferrand mit sich fortführen. Sie war verzweifelt über diese
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