Lourdes
naiv:
»Warum?«
»Weil ich Sie wiedergefunden habe, weil ich mich hier bei Ihnen befinde, um Ihnen in Ihren bewunderungswürdigen Arbeiten ein wenig Hilfe zu leisten. Und wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin, wie ich Sie liebe und wie ich Sie verehre!«
Sie hob den Kopf, um ihm ins Angesicht zu schauen, und fing an, ohne irgendwelche Verlegenheit zu scherzen. Sie war so anmutig mit ihrem Lilienteint, ihrem kleinen, fröhlichen Mund und den liebenswürdigen, blauen, stets lächelnden Augen. Sie sah zart und geschmeidig aus und hatte nicht mehr Busen als ein kleines, ganz in Unschuld und Aufopferung aufgewachsenes Mädchen.
»So sehr lieben Sie mich also? Warum denn?«
»Warum ich Sie liebe? Weil Sie das beste, trostreichste, schwesterlichste Wesen sind. Sie sind immer noch die süßeste Erinnerung meines Lebens. Sie denken also nicht an den Monat zurück, den wir beide in meinem armseligen Zimmer zusammen verlebten, als ich so krank war und Sie mich pflegten?«
»Gewiß! Ich habe sogar niemals einen so angenehmen Kranken gehabt wie Sie. Alles, was ich Ihnen gab, das nahmen Sie ein. Und wenn ich Ihre Wäsche gewechselt hatte und Sie in das Bett brachte, so blieben Sie ruhig wie ein Kind.«
Sie betrachtete ihn fortwährend mit unbefangenem Lächeln. Er war sehr schön und sehr kräftig, die Nase ein wenig stark, die Augen herrlich. Sie aber schien einfach glücklich, ihn so vor sich zu sehen.
»Ach, Schwester! Ich wäre gestorben ohne Sie. Sie sind's, die mich gesund gemacht hat!«
Dann stieg, während sie sich mit gefühlvoller Fröhlichkeit betrachteten, der selige Monat vor ihnen auf. Sie hörten das Röcheln der Frau Vêtu nicht mehr, sahen nicht mehr den von Betten überfüllten Saal, der in seiner Unordnung einem nach einer öffentlichen Katastrophe improvisierten Lazarett glich. Hoch oben in einem schwarzen Hause fanden sie sich im Geiste wieder, in einem engen Mansardenzimmer des alten Paris, in dem Licht und Luft den Weg zu ihnen nur durch ein kleines Fenster fanden, das die Aussicht auf einen Ozean von Dächern eröffnete. Und welcher Reiz lag in diesem Alleinsein! Ihn hatte das Fieber niedergeworfen, und sie war wie ein guter Engel zu ihm niedergestiegen und als guter Kamerad, der nichts zu befürchten hatte, aus ihrem Kloster gekommen. So pflegte sie die Frauen, die Kinder und die Männer, wie sie ihr auf gut Glück begegneten. Und wenn sie sich nur rühren und irgendein Leiden lindern durfte, war sie vollständig glücklich, ohne daß auch nur der Gedanke an ihr Geschlecht jemals in ihr auftauchte. Ferrand schien sich ebensowenig träumen zu lassen, daß sie eine Frau sein könnte, wenn sie auch sehr sanfte Hände, eine schmeichelnde Stimme und eine wohltuende Zärtlichkeit besaß. Trotzdem strömten von ihr die Güte einer Mutter und die Liebe einer Schwester aus. Wie sie sagte, hatte sie ihn drei Wochen lang wie ein Kind gepflegt, ihn aus dem Bett gehoben, niedergelegt und ihm ohne Unbehaglichkeit oder Widerwillen die vertrautesten Dienste geleistet. Beiden stand als Schutz die reine Heiligkeit des Leidens und der barmherzigen Liebe zur Seite. Und welche gute Kameradschaft herrschte zwischen ihnen, als die Genesung eingetreten war! Wie lachten sie miteinander gleich alten Freunden! Sie wachte noch über ihn, schalt ihn aus und gab ihm einen Klapps auf die Arme, wenn er sie eigensinnig außerhalb des Bettes ließ. Dann beobachtete er wieder, wie sie etwas Seifenwasser im Waschbecken bereitete und ein Hemd wusch, um ihm die drei Sous Wäscherlohn zu ersparen. Niemals kam jemand zu ihnen hinauf, sie waren allein, tausend Meilen von der Welt entfernt und entzückt von dieser Einsamkeit, an der sich ihre Jugend so geschwisterlich erfreute.
»Erinnern Sie sich des Morgens, an dem ich zum erstenmal wieder das Gehen probierte, Schwester? Sie hoben mich auf und stützten mich, während ich wie ein ungeschickter Bursche stolperte und mich der Beine nicht mehr zu bedienen wußte. Das brachte uns zum Lachen.«
»Ja, ja. Sie waren gerettet, und ich war sehr zufrieden.«
»Und an den Tag, da Sie mir Kirschen mitbrachten? Ich sehe uns noch, mich gegen meine Kissen gelehnt, Sie auf dem Rand des Bettes sitzend und zwischen uns die Kirschen in einem großen weißen Papier. Ich hatte keine berühren wollen, wenn Sie nicht mit mir essen würden. Dann nahmen wir, der Reihe nach, immer eine, und das Papier wurde leer, und die Kirschen waren sehr gut.«
»Ja, ja, sehr gut! Es war wie beim
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