Lourdes
Notre Dame des Douleurs sitzengeblieben. Nachdem sie die ganze Nacht vor der Grotte verbracht hatte, hatte sie es abgelehnt, sich wieder hinführen zu lassen. Und als Frau von Jonquière sich näherte, um ein herabgleitendes Kissen in die Höhe zu richten, fragte sie:
»Welchen Tag haben wir heute, gnädige Frau?«
»Montag, mein liebes Kind!«
»Ach, richtig. Man weiß nicht mehr, wie man an der Zeit ist. Nicht? Und ich bin so glücklich! Heute wird mich die Heilige Jungfrau heilen.«
Sie lächelte überirdisch und hatte das Aussehen einer wachen Träumerin. Ihre Augen verloren sich ins Weite, sie war so zerstreut, so in ihre fixe Idee vertieft, daß sie nur die ferne, aber gewisse Verwirklichung ihrer Hoffnung erblickte.
Der Saal Sainte-Honorine leerte sich um sie herum. Alle Kranken waren nach der Grotte gegangen, und nur Frau Vêtu war im nächsten Bett zurückgeblieben, sie lag im Todeskampf. Aber Marie bemerkte das nicht einmal, sie war entzückt darüber, daß es plötzlich still geworden war. Man hatte eines der auf den Hof hinausgehenden Fenster geöffnet, und der Glanz der Morgensonne fiel in einem breiten Strahl herein, dessen goldene Stäubchen gerade über ihrem Bettuch tanzten und ihre bleichen Hände badeten. Wie war das gut! Und dieser nächtliche Trauersaal mit seinen Schmerzensbetten, seinem Gestank und seinem vom Alpdrücken erpreßten Ächzen, wie war er auf einmal vom Sonnenlicht erfüllt, von der Morgenluft erfrischt und in süßes Schweigen gehüllt!
»Warum versuchen Sie nicht, ein wenig zu schlafen?« fragte Frau von Jonquière mütterlich. »Sie müssen doch wie zerschlagen sein nach einer ganz durchwachten Nacht.«
Marie schien überrascht. Es war ihr so leicht, daß sie hätte fliegen mögen und daß sie ihre Glieder nicht mehr fühlte.
»Aber ich bin durchaus nicht müde«, sagte sie. »Ich habe keinen Schlaf. Schlafen? O nein! Das wäre zu traurig, ich wüßte ja dann nicht mehr, daß ich geheilt werde.«
Das brachte die Vorsteherin zum Lachen.
»Warum wollten Sie dann nicht, daß man Sie zur Grotte brachte? Sie werden sich, ganz allein in diesem Bett, bald langweilen.«
»Ich bin nicht allein, gnädige Frau! Sie ist bei mir.«
In ihrer Verzückung faltete sie die Hände, während sie ihre Vision wieder heraufbeschwor.
»Sie wissen, daß ich diese Nacht die Heilige sah, wie sie den Kopf neigte und mir zulächelte. Ich habe sie gut verstanden. Ich habe ihre Stimme vernommen, ohne daß sie die Lippen öffnete. Wenn um vier Uhr das heilige Sakrament vorüberzieht, werde ich geheilt werden.«
Frau von Jonquière beunruhigte sich ein wenig über diese Art Verzückung und wollte sie besänftigen. Aber die Kranke wiederholte:
»Nein, nein! Ich befinde mich nicht schlechter, ich warte ... Sie begreifen doch, daß ich nicht nötig habe, diesen Morgen nach der Grotte zu gehen, denn das Stelldichein, das sie mir gab, ist um vier Uhr.«
Dann setzte sie leiser hinzu:
»Um dreieinhalb Uhr wird Pierre mich abholen, um vier Uhr werde ich geheilt sein.«
Langsam stieg der Sonnenschein längs ihrer nackten, durchsichtigen, krankhaft schwachen Arme herauf, während ihre bewundernswerten blonden, auf die Schultern herabgeglittenen Haare ein Ausfluß des Gestirns selbst zu sein schienen, der sie ganz umhüllte. Aus dem Hof erscholl Vogelgesang und erheiterte die Stille des Saales. Irgendein Kind, das man nicht sah, mußte irgendwo herum spielen, denn auch leichte Lachtöne erhoben sich auf Augenblicke in der lauen, köstlich ruhigen Luft.
»Also gut«, schloß Frau von Jonquière, »so schlafen Sie nicht, weil Sie keinen Schlaf haben. Bleiben Sie aber recht verständig, dadurch werden Sie auch ausruhen.«
Aber im nächsten Bett lag Frau Vêtu im Sterben. Man hatte nicht gewagt, sie nach der Grotte zu führen, aus Furcht, sie auf der Straße verscheiden zu sehen. Seit einem Augenblick hielt sie die Augen geschlossen, und Schwester Hyacinthe, die sie prüfend betrachtete, rief Frau Desagneaux herbei, um ihr den schlechten Eindruck mitzuteilen, den die Kranke auf sie machte. Jetzt beugten sich beide über die Sterbende und beobachteten jede Bewegung mit wachsender Beunruhigung. Das Gesicht war schon gelb geworden, die Augenhöhlen hatten sich vertieft, die Lippen schienen dünner zu werden. Und dann das Röcheln! Ein Röcheln, ein langsames, vom Krebs vergiftetes Atmen begann. Plötzlich hob sie die Lider und erschrak, als sie die beiden über sie gebeugten Gesichter bemerkte. War sie dem
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