Lourdes
Johannisbeersirup: Sie entschlossen sich nicht, zu kosten, ehe ich nicht selbst davon gekostet hatte.«
Sie lachten lauter, denn diese Erinnerungen entzückten sie. Aber ein Seufzer der Frau Vêtu führte sie wieder in die Gegenwart zurück. Er neigte sich und warf einen Blick auf die Kranke, die sich nicht von der Stelle bewegt hatte. Der Saal bewahrte seinen tiefen Frieden, der nur durch die helle Stimme der Frau Desagneaux gestört wurde, die mit dem Zählen der Wäsche beschäftigt war.
Atemlos vor seelischer Erregung, begann Ferrand wieder mit leiserer Stimme:
»Ach, Schwester! Wenn ich hundert Jahre lebe und alle Freuden, alle Zärtlichkeiten kennenlernen darf, ich werde niemals eine andere Frau so lieben, wie ich Sie liebe!«
Da senkte Schwester Hyacinthe, jedoch ohne Verwirrung, das Haupt und begann wieder zu nähen. Eine unmerkliche Röte hatte ihr Antlitz rosig gefärbt.
»Auch ich, Herr Ferrand, liebe Sie sehr. Nur müssen Sie mich nicht eingebildet machen. Ich habe für Sie getan, was ich für so viele andere tue. Es ist das mein Beruf, meine Obliegenheit, wie Sie wissen. Und da, in meinem Innern, ist nur eines, was mir Freude macht, nämlich, daß der liebe Gott Sie gesund werden ließ.«
Sie wurden aufs neue unterbrochen. Die Grivotte und Elise Rouquet kamen vor den anderen von der Grotte zurück. Sogleich kauerte sich die Grivotte auf ihre Matratze nieder, die zu Füßen von Frau Vêtus Bett auf dem Boden lag, dann zog sie ein Stück Brot aus der Tasche und schickte sich an, es zu verschlingen. Ferrand hatte sich seit dem Vorabend für diese Schwindsüchtige interessiert, die sich in einem seltsamen Zustand der Unruhe befand und von einem übertriebenen Appetit und dem fieberhaften Bedürfnis sich zu bewegen erfaßt war. Aber in diesem Augenblick befremdete ihn der Fall der Elise Rouquet noch mehr, denn jetzt war es gewiß, daß der Lupus, dessen Wunde ihr das Gesicht zerfraß, sich gebessert hatte. Sie setzte ihre Abwaschungen am wunderbaren Brunnen fort und kam geradeswegs aus dem Büro der Beurkundungen, in dem Doktor Bonamy triumphiert hatte. Überrascht ging Ferrand näher und untersuchte die schon blasser gewordene und ein wenig eingetrocknete Wunde. Sie war weit entfernt, geheilt zu sein, aber es begannen bereits Wesen und Wirken der Heilung. Der Fall erschien ihm so sonderbar, daß er sich fest vornahm, Notizen darüber für einen seiner ehemaligen Lehrer von der Hochschule zu machen. Dieser war gerade damit beschäftigt, den nervösen Ursprung gewisser Hautkrankheiten, die von Störungen in der Ernährung herrühren, zu studieren.
»Haben Sie kein Prickeln gefühlt?« fragte er.
»Nein, nein! Ich wasche mich und bete aus ganzer Seele meinen Rosenkranz. Das ist alles.«
Die Grivotte, eitel und eifersüchtig, weil sie seit dem Vorabend inmitten der Volksmassen triumphierte, rief den Arzt.
»Ich bin geheilt, geheilt, vollständig geheilt!«
Er lächelte mit einer freundschaftlichen Gebärde, lehnte es aber ab, sie zu untersuchen.
»Ich weiß, mein Kind! Ihnen fehlt durchaus nichts mehr.«
In diesem Augenblick rief ihn Schwester Hyacinthe zurück. Sie ließ ihre Näherei im Stich, da Frau Vêtu von einer heftigen Übelkeit befallen worden war. Trotz ihrer Eile kam die Schwester nicht zeitig genug mit der Waschschüssel an: die Kranke hatte wiederum einen Strom schwarzen, rußähnlichen Auswurfs erbrochen, und dieses Mal fand sich Blut daruntergemischt in Form von veilchenblauen Blutfäden. Das war der Bluterguß, und das Ende stand bevor, wie Ferrand es befürchtet hatte.
»Verständigen Sie die Frau Vorsteherin«, sagte er halblaut, indem er sich niederließ, um selbst beim Bett zu bleiben.
Schwester Hyacinthe lief weg, um Frau von Jonquière zu suchen. Die Wäsche war gezählt, und die Vorsteherin befand sich in eifriger Unterredung mit ihrer Tochter Raymonde. Sie war mit ihr auf die Seite getreten, während Frau Desagneaux sich die Hände wusch.
Raymonde war einen Augenblick aus dem Refektorium, in dem sie Dienst tat, entschlüpft. Für sie war es die härteste Fron: dieser lange, enge Saal mit seinen zwei Reihen fettiger Tische, seinem ekelhaften Geruch von Speiseüberresten und Elend drehte ihr den Magen um. Sie benützte die halbe Stunde, die ihr vor der Rückkehr der Kranken blieb, und stieg schnellstens die Treppen in die Höhe. Keuchend, ganz rot und mit leuchtenden Augen warf sie sich ihrer Mutter um den Hals.
»Ach, Mama, welches Glück! Es ist abgemacht!«
Frau von
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