Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
Doppelkette der Sänftenträger zu beiden Seiten des Altarhimmels nicht durchbrochen wurde.
    »Schließt eure Reihen!« rief er. »Immer noch fester! Und schlingt die Arme fest ineinander!«
    Die jungen, aus den kräftigsten Leuten ausgesuchten Männer hatten eine schwere Aufgabe. Die Mauer, die sie bildeten, bog sich jeden Augenblick bei dem unwillkürlichen Anprall der Menge. Niemand glaubte zu drängen, und doch gab es ununterbrochene, mächtige Wogen, die von fern herkamen und alles zu verschlingen drohten.
    Als der Altarhimmel sich mitten auf dem Platz der Rosenkranzkirche befand, glaubte der Abbé Judaine sicher, er würde nicht mehr weiter kommen. Auf dem weiten Platz hatten sich mehrere Gegenströme gebildet, die von allen Seiten gegen ihn anstürmten. Der Abbé mußte unter dem Himmel stehenbleiben, der hin und her geworfen wurde wie ein auf hoher See von einem plötzlichen Windstoß gefülltes Segel. Er hielt das heilige Sakrament mit beiden Händen ganz hoch, aus Furcht, ein letzter Stoß könnte es umwerfen. Denn er fühlte wohl, daß die goldene, sonnenglänzende Monstranz die leidenschaftliche Begierde dieses ganzen Volkes bildete: sie war der Gott, den man verlangte, um ihn zu küssen und in ihm aufzugehen, selbst auf die Gefahr hin, ihn zu vernichten. Der Geistliche stand unbeweglich und richtete unruhige Blicke auf Berthaud.
    »Laßt niemand passieren!« schrie dieser den Sänftenträgern zu. »Niemand! Der Befehl ist ausdrücklich. Hört ihr?«
    Aber da wurden flehende Stimmen laut: armselige Andächtige schluchzten mit ausgestreckten Händen und verzerrten Lippen in dem wahnsinnigen Wunsch, daß man sie näherkommen und zu des Priesters Füßen auf die Knie fallen lassen möge. Welche Gnade, zur Erde geworfen, niedergetreten zu werden und die ganze Prozession über sich hinschreiten zu lassen! Ein Kranker zeigte seine verdorrte Hand: er war überzeugt, sie würde wieder zu neuem Leben aufblühen, wenn man ihm die Monstranz anzurühren gestattete. Eine Stumme teilte mit starken Schultern wütende Stöße aus und drängte sich heran, um das Band ihrer Zunge durch einen Kuß zu lösen. Andere und immer wieder andere schrien, flehten und ballten endlich die Fäuste gegen die Grausamen, die den Leiden ihrer Leiber und dem Elend ihrer Seelen die Heilung verweigerten. Aber der Befehl galt für alle ohne Ausnahme, man fürchtete, es könnten sich sonst die schwersten Unfälle ereignen. »Niemand darf vor!« wiederholte Berthaud; »laßt niemand passieren!«
    Es war jedoch eine Frau da, deren Anblick alle Herzen rührte. Armselig gekleidet, barhäuptig und mit tränennassem Gesicht hielt sie einen kleinen Knaben von etwa zehn Jahren auf den Armen, dessen beide Beine gelähmt waren und kraftlos herabhingen. Für ihre Schwäche bildete er eine zu schwere Bürde, aber sie schien sie nicht zu fühlen. Sie hatte ihren Knaben hergebracht und beschwor nun die Sänftenträger mit einem stumpfen Starrsinn, den weder Worte noch Stöße überwältigen konnten, sie durchzulassen.
    Endlich rief der Abbé Judaine sehr bewegt sie durch ein Zeichen zu sich. Der barmherzigen Absicht des Geistlichen gehorchend traten, obgleich es gefährlich war, eine Lücke zu öffnen, zwei Sänftenträger auf die Seite. Die Frau stürzte hindurch und warf sich mit ihrer Last vor dem Priester nieder. Einen Augenblick stellte dieser den Fuß des heiligen Sakraments auf den Kopf des kleinen Knaben und die Mutter selbst heftete ihre gierigen Lippen darauf.
    Als man sich dann wieder auf den Weg machte, blieb sie hinter dem Altarhimmel. Sie begleitete die Prozession keuchend, mit im Winde flatternden Haaren und taumelnd unter der allzu schweren Bürde, die ihr die Schultern zerbrach.
    So überschritt man mit großer Mühe den Platz der Rosenkranzkirche. Dann begann der Aufstieg, der prächtige Aufstieg auf der monumentalen Rampe, während dessen Dauer hoch oben am Rande des Himmelsgewölbes, wo die Basilika ihre dünne Turmspitze in die Höhe streckte, sich harmonische Glockenstimmen aufschwangen, die den Triumph Unserer Lieben Frau von Lourdes in die Welt hinausläuteten. Diesen vergötternden Klängen, dieser hohen Pforte des Heiligtums, die der Unendlichkeit geöffnet schien, schwebte jetzt langsam der Altarhimmel entgegen über dem Meer der unermeßlichen Menge, das unten fortwährend über die Plätze und durch die Alleen brauste. Der in Blau und Silber gekleidete Schweizer war mit dem Prozessionskreuz schon auf der Höhe des

Weitere Kostenlose Bücher