Lourdes
es fiel ein so starker Millionenregen nieder, daß es schien, als ob die junge Stadt ins endlose wachsen und schließlich das ganze Tal von einem Ende der Berge bis zum andern anfüllen müsse. Wenn Bernadette nicht gewesen wäre, würde das alles nicht da sein. Das außerordentliche Abenteuer zerfiele in nichts, und das unbekannte alte Lourdes schliefe zu Füßen des Schlosses noch immer seinen seit Jahrhunderten andauernden Schlaf. Bernadette war die einzige, die das geschaffen hat, sie war die Schöpferin des Werkes. Und nun war dieses Zimmer, diese eigentliche Wiege des Wunders und des wunderbaren künftigen Glücks, es war herabgewürdigt, dem Ungeziefer zur Beute überlassen, gerade gut genug, um Zwiebeln und leere Fässer darin aufzuheben.
Da erhob sich der Widerspruch im Geiste Pierres mit solcher Stärke, daß er den Triumph noch einmal sah, dem er soeben beigewohnt hatte, daß er wieder sah, wie überaus hoch man die Grotte und die Basilika verehrte, und wie Marie ihren Wagen ziehend, unter dem Jubelgeschrei der Menge hinter dem heiligen Sakrament aufwärts stieg. Aber alles überstrahlte die Grotte. Sie war nicht mehr die alte, wilde Felsenhöhle am wüsten Ufer des Gebirgsbachs, vor der das Kind ehemals niedergekniet war, sondern die mit Reichtümern ausgestattete, im Lichterglanz brennende Kapelle, vor der die Nationen vorüberzogen. Aller Lärm und aller Glanz, alle Anbetung und alles Geld machten sich dort inmitten der Pracht eines fortwährenden Siegeszuges breit. Aber hier in der Wiege des Ganzen, in diesem eiskalten, düsteren Loch befand sich keine Seele. Da brannte keine Kerze, da erschallte kein Gesang, da gab es keine Blume. Niemand kam hierher, niemand kniete hier nieder und betete. Nur einige empfindsame Besucher hatten, um ein Andenken mitzunehmen, kleine Splitter von dem als Kaminsims dienenden halbverfaulten Brette mit ihren Fingern abgebröckelt. Der Klerus wollte nichts wissen von diesem Ort des Elends, zu dem sich die Prozessionen wie zu einem Altar der Verklärung hätten begeben müssen. Denn hier hatte das arme Kind seinen Traum begonnen, als es in einer kalten Nacht von einem Anfall seiner Krankheit ergriffen wurde und die ganze Familie in tiefem Schlafe lag. Von hier war es ausgegangen und hatte unbewußt diesen Traum mitgetragen, der im vollen Tageslicht aufs neue in ihm erstand, um so lieblich zu einer Legende aufzublühen. Und nun machte kein Mensch mehr diesen Weg. Vergessen und der Finsternis überlassen war die Krippe, in der das kleine, unscheinbare Samenkorn gekeimt hatte, dessen wunderbare Ernten jetzt mit großartigen, pomphaften Zeremonien eingeheimst wurden.
Pierre, dessen menschenfreundliches Gemüt diese ganze Geschichte erregte, faßte endlich seine Gedanken in ein Wort zusammen, indem er halblaut sagte:
»Ein Bethlehem!«
»Ja«, antwortete Doktor Chassaigne, »in armseliger Wohnung, in elendem Asyl werden die neuen Religionen des Duldens und des Mitleids geboren. Ich frage mich bisweilen, ob nicht alles besser so bleibt, wie es ist, und ob man dies Zimmer nicht lieber in seiner Armut und Vernachlässigung erhalten soll. Mir scheint, daß Bernadette dadurch nichts verliert, denn wenn ich hier eine Stunde verbringe, fühle ich mich noch mehr zu ihr hingezogen.«
Er schwieg wieder, dann sagte er mit einer Gebärde der Empörung:
»Doch nein! Ich kann die Undankbarkeit nicht verzeihen, sie bringt mich außer Fassung. Ich habe Ihnen schon gesagt, ich bin davon überzeugt, daß Bernadette freiwillig nach Nevers ins Kloster ging. Und dieselben Leute, die die Herren zu sein wünschen, bieten auch heute alle Mittel auf, um die Erinnerung an Bernadette zum Schweigen zu bringen. Ach, wenn ich Ihnen alles sagen würde!«
Nach und nach erleichterte er sich, indem er weiter erzählte. Die Patres von der Grotte fürchteten die tote Bernadette, deren Werk sie so gierig ausbeuteten, noch mehr als die lebende. Solange sie am Leben war, bestand ihr größter Schrecken sicherlich darin, daß sie nach Lourdes zurückkommen könnte, um die Beute mit ihnen zu teilen. Sie wurden einzig und allein durch ihre Demut beruhigt, denn sie war durchaus nicht herrschsüchtig, sondern hatte selber das Dunkel der Entsagung gewählt, worin sie verlöschen sollte. Jetzt aber zitterten sie noch mehr bei dem Gedanken, daß ein anderer Wille die Reliquien der Seherin zurückbringen könnte. Gleich am Tag nach dem Tode war dem Stadtrat der Gedanke gekommen, die Stadt sollte ein Grabmal errichten,
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