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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Bewegung zu setzen? Nein, nein! Das Wehen eines göttlichen Hauchs war hier bemerkbar, und das allein vermag das Wunder zu erklären!«
    Pierre stand im Begriff, eine lebhafte Antwort zu geben. Ja, es war so! Das Wehen eines Hauchs, das Schluchzen des Schmerzes, die unauslöschliche Sehnsucht nach der erhofften Unendlichkeit hatte gewaltet. Wenn der Traum eines leidenden Kindes genügt hatte, um die Völker herbeizuführen, Millionen regnen und eine neue Stadt aus dem Boden wachsen zu lassen, geschah dies nicht deshalb, weil dieser Traum den Hunger der armen Menschen, ihr unersättliches Bedürfnis, betrogen und getröstet zu werden, einigermaßen stillte? Bernadette hatte ohne Zweifel in einem sehr günstigen geschichtlichen Augenblick das Unbekannte wieder erschlossen, und die Massen hatten sich darauf gestürzt. Oh, wenn man doch im Geheimnisvollen seine Zuflucht fände, da die Wirklichkeit zu hart ist! Wenn man dem Wunder vertrauen dürfte, da die grausame Natur doch nur voller Ungerechtigkeit zu sein scheint! Aber es ist vergeblich, das Unbekannte zu organisieren, es in Dogmen zusammenzufassen und als offenbarte Religion darzustellen. Im Grunde ist es immer nur der Ruf des Leidens, der Aufschrei des Lebens, das Gesundheit, Freude und Glück verlangt und bereit ist, diese Güter in einer andern Welt anzunehmen, wenn es sie auf dieser Erde nicht haben kann. Was nützt also der Dogmenglaube? Ist es nicht genug, wenn man weint und liebt?
    Aber Pierre kleidete seine abweichende Meinung nicht in Worte. Er hielt die Antwort, die ihm auf die Lippen stieg, zurück. Übrigens war er der Überzeugung, daß das ewige Bedürfnis nach dem Übernatürlichen in dem vom Schmerz heimgesuchten Menschen den ewigen Glauben lebendig erhält. Das unmöglich zu beweisende Wunder sollte das für die Menschheit unentbehrliche Brot sein. Und hatte er sich nicht zugeschworen, in barmherziger Liebe niemanden mehr durch seine Zweifel zu betrüben?
    »Ein großes Wunder, nicht wahr?« beharrte der Doktor auf seiner Ansicht.
    »Gewiß!« antwortete er endlich. »In diesem armseligen, feuchten und schwarzen Zimmer hat sich das ganze menschliche Drama abgespielt, alle unbekannten Kräfte haben darin mitgewirkt.«
    Sie verharrten noch einige Minuten im Schweigen. Dann gingen sie nochmals an den Wänden entlang, erhoben die Augen zur verräucherten Zimmerdecke und warfen einen letzten Blick in den engen, von grünlichem Licht erfüllten Hofraum. Diese verfallene Dürftigkeit mit ihren Spinnengeweben, diese alten Fässer, außer Gebrauch gesetzten Werkzeuge und Trümmer, die in den Winkeln verfaulten, waren wirklich tief betrübend. Und langsam gingen sie schließlich, ohne ein Wort zu sagen, fort, da ihnen eine unsagbare Traurigkeit die Kehle zusammenschnürte.
    Erst auf der Straße schien Doktor Chassaigne wieder zu erwachen. Er beschleunigte seine Schritte und sagte:
    »Wir sind noch nicht zu Ende, folgen Sie mir, lieber Pierre. Wir wollen jetzt die Stätte der andern großen Ungerechtigkeit in Augenschein nehmen.«
    Er sprach vom Abbé Peyramale und seiner Kirche. Sie überschritten die Place du Porche und bogen in die Rue Saint-Pierre ein. Sie waren bald an Ort und Stelle. Das Gespräch kam jetzt wieder auf die Patres von der Grotte zurück, sowie auf den schrecklichen Krieg, den der Pater Sempeé, ohne Pardon zu geben, gegen den ehemaligen Kuraten von Lourdes geführt hatte. Dieser war besiegt worden und in schrecklicher Verbitterung gestorben. Und nachdem man ihn durch Gram ums Leben gebracht hatte, hatte man auch seine Kirche, die er unausgebaut, ohne Dach, dem Wind und Wetter geöffnet, hinterlassen hatte, ganz vernichtet. Mit welch herrlichen Träumen hatte diese monumentale Kirche die letzten Jahre seines Daseins erfüllt! Seitdem man ihn aus dem Besitz der Grotte vertrieben, seit man ihn aus dem für Unsere Liebe Frau von Lourdes errichteten Werk verjagt hatte, bildete diese Kirche seine Vergeltung, seinen Protest gegen die ihm widerfahrene Unbill, seinen eigenen Anteil am Ruhme. Sie sollte das Haus Gottes werden, in dem er triumphieren und aus dem er endlose Prozessionen führen wollte. Der Herrscher und Gebieter, der im tiefsten Innern seines Wesens lebte, der Hirt großer Volksmassen und der Tempelerbauer hatte eine ungeduldige Freude, wenn er die Arbeiten beschleunigen konnte. Dabei war er unvorsichtig wie alle leidenschaftlichen Menschen, kümmerte sich nicht um die Schulden und ließ sich von den Unternehmern bestehlen, wenn er

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