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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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befunden hätte, die dem Staub des Erdbodens entquellend die Stockwerke der übereinander gebauten Kirchen hinaufkletterte, sich von Tabernakel zu Tabernakel erweiterte und selbst die Mauern so erweichte, daß auch sie schluchzten und der Ruf des höchsten Elends in den Himmel dringen mußte, von dem sich die weiße Spitze und das hohe, am Ende des Turms angebrachte vergoldete Kreuz der Basilika abhob. O allmächtiger Gott! Göttliches Wesen! Hilfreiche Kraft! Wer du auch sein magst, hab' Erbarmen mit den armen Menschen, mache dem Leiden des Menschengeschlechts ein Ende!
    Plötzlich fühlte Pierre sich geblendet. Er war dem Gange zur Linken gefolgt und trat oberhalb der Rampen ins volle Tageslicht hinaus. Sofort umfaßten ihn zwei Arme, die ihn zärtlich festhielten. Doktor Chassaigne war es, dessen Verabredung er vergessen und der ihn da erwartet hatte, um ihn zu Bernadettes Zimmer und zu des Kuraten Peyramale Kirche zu führen.
    »Ach, mein Kind!« begann er, »wie groß, muß Ihre Freude sein ... Ich habe die große Neuigkeit von der außergewöhnlichen Gnade, mit der Unsere Liebe Frau von Lourdes Ihre Freundin bedacht hat, soeben erfahren. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen vorgestern sagte? Ich bin jetzt ruhig, denn Sie selbst sind auch gerettet.«
    Der sehr bleich gewordene Priester fühlte eine letzte Bitterkeit. Aber er konnte lächeln und antwortete sanft:
    »Ja, wir sind gerettet, ich bin sehr glücklich.«
    So nahm die Lüge, die göttliche Illusion, in der er die anderen aus Barmherzigkeit lassen wollte, ihren Anfang.
    Die beiden Türflügel der Hauptpforte der Basilika standen weit offen, und der rote Strahl des Sonnenscheins erfüllte das Kirchenschiff von einem Ende bis zum andern. Alles flammte in hellem Glanz: das vergoldete Gitter des Chors, die goldenen und silbernen Votivtafeln, die mit Edelsteinen verzierten Lampen, die glänzend gestickten Fahnen und die geschwungenen, fliegenden, Juwelen ähnlichen Rauchfässer. Ganz hinten im Hintergrund dieser lodernden Pracht, zwischen den schneeigen Chorhemden und den goldenen Meßgewändern, erkannte er Marie in ihren aufgelösten Haaren, die auch wie von Gold schimmerten und deren Flut sie mit einem aus Gold gewobenen Mantel bekleidete. Die Orgel stimmte einen majestätischen Gesang an, das rasende Volk jauchzte zu Gott, und der Abbé Judaine hatte soeben das auf dem Altar stehende Sakrament wieder ergriffen. Zum letztenmal zeigte er es, hoch erhoben und wie in einem Heiligenschein strahlend, dem Volk, und dabei strahlte das Innere der Basilika von Goldglanz, und alle Glocken verkündeten mit lauter, eherner Stimme den wunderbaren Triumph.

V
    Als sie gleich darauf die Rampen hinabstiegen, sagte Doktor Chassaigne zu Pierre:
    »Sie sahen soeben den Triumph, ich werde Ihnen jetzt zwei große Ungerechtigkeiten zeigen.«
    Und er führte ihn nach der Rue des Petits-Fossés in das Zimmer der Bernadette, in die niedrige und dunkle Kammer, aus der sie am Tag, da ihr die Heilige Jungfrau erschien, herausgekommen war.
    Die Rue des Petits-Fossés zweigt von der alten Rue du Bois, der heutigen Rue de la Grotte, ab und schneidet die Rue de Tribunal. Sie bildet ein kleines, winkliges, sehr trauriges Gäßchen mit leichtem Gefälle. Selten sah man dort Leute gehen, sie wird nur von langen Mauern, armseligen Häusern und düstern Fassaden eingefaßt, in denen sich kein Fenster öffnet. Ein Baum in einem Hofraum ist alles, was sie an Heiterem besitzt.
    »Wir sind da«, sagte der Doktor.
    Das Gäßchen wurde an dieser Stelle sehr schmal und eng, und das Haus befand sich gegenüber einer hohen, grauen und nackten Scheunenmauer. Beide hoben den Kopf und betrachteten das kleine Haus.
    Es schien ausgestorben zu sein, hatte enge Fensterkreuze und einen groben bläulichen Kalkbewurf von blöder, armseliger Häßlichkeit. Unten der Hausgang war ganz dunkel, nur ein schmächtiges, altväterisches Gitter schloß ihn ab. Den zu ihm hinaufführenden Tritt bespülte der Bach, wenn er von Gewitterregen angeschwollen war.
    Der Doktor fuhr fort:
    »Treten Sie ein, mein Freund! Treten Sie ein! Sie brauchen nur das Gitter aufzustoßen!«
    Der Gang war tief, und Pierre folgte der feuchten Mauer mit der Hand, da er fürchtete, irgendeinen Fehltritt zu tun. Es schien ihm, als stiege er in voller Dunkelheit in einen Keller hinab, und er hatte die Empfindung, der schlüpfrige Boden unter ihm sei stets vom Wasser benetzt. Am Ende des Hausgangs wandte er sich auf eine neue Weisung des

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