Lourdes
Doktors nach rechts.
»Bücken Sie sich, denn Sie könnten sich stoßen, die Tür ist sehr niedrig ... So, da sind wir!«
Wie die Straßentür stand auch diese Zimmertür weit offen, man kümmerte sich nicht um diesen verlassenen Raum. Pierre, der in der Mitte des Zimmers zögernd stehenblieb, weil seine Augen noch an die lebhafte Helle gewöhnt waren, die draußen herrschte, unterschied gar nichts. Er war in eine vollständige Finsternis hineingeraten. Eine eisige Frische, ähnlich der Empfindung, die nasse Wäsche verursacht, erfaßte ihn an den Schultern.
Nach und nach gewöhnten sich aber seine Augen an die Dunkelheit. Die zwei Fenster von ungleicher Größe gingen auf einen engen innern Hof hinaus, in den nur grünliches Licht wie in die Tiefe eines Brunnens einfiel. Um am hellen Mittag in diesem Zimmer zu lesen, hätte es einer Kerze bedurft. Die Kammer, etwa vier Meter auf dreieinhalb Meter groß, war mit großen rauhen Steinen gepflastert, der Hauptbalken und die Durchzüge der Zimmerdecke hatten sich im Laufe der Zeit mit einer schmutzigen Rußfarbe bedeckt. Der Tür gegenüber befand sich der Kamin, ein elender Kamin aus Gips, dessen Sims ein altes, von den Würmern zerfressenes Brett bildete, und zwischen dem Kamin und dem einen Fenster ein Gußstein. Von den mit nassen Flecken bedeckten, zerfetzten und zersprungenen Wänden schuppte sich der alte Mörtel ab, sie wurden schwarz und unsauber wie die Zimmerdecke. Möbel waren nicht mehr vorhanden, der Raum schien verlassen, und man sah nur undeutlich und verworren einige ungewöhnliche Gegenstände, die man im tiefen Schatten, der alle Winkel erfüllte, nicht erkennen konnte.
Nach längerem Schweigen begann der Doktor zu sprechen.
»Ja«, sagte er, »das ist das Zimmer, und von hier ist alles ausgegangen ... Nichts ist geändert worden, nur die Möbel sind nicht mehr da. Ich habe versucht, sie im Geist an ihre früheren Plätze zu stellen. Die Betten befanden sich sicherlich an der Wand gegenüber den Fenstern. Es waren wenigstens drei Betten, denn die Soubirous' waren sieben Personen: der Vater, die Mutter, zwei Knaben und drei Töchter ... Denken Sie! Drei Betten füllten dieses Zimmer aus, und sieben Personen lebten auf diesen paar Quadratmetern! Und dieser Haufen war wie lebendig begraben, ohne Luft, ohne Licht und fast ohne Brot! Welch tiefes Elend und welche Erniedrigung armer, beklagenswerter Wesen!«
Aber er wurde unterbrochen. Ein Schatten, den Pierre zuerst für eine alte Frau hielt, trat ein. Es war ein Priester, der Vikar des Kirchspiels, der gegenwärtig das Haus bewohnte. Er kannte den Doktor.
»Ich habe Ihre Stimme gehört, Herr Chassaigne«, sagte er, »und bin deshalb gekommen ... Sie zeigen also das Zimmer noch jemandem?«
»In der Tat habe ich mir das erlaubt, Herr Abbé! ... Es stört Sie doch nicht?«
»Oh, ganz und gar nicht! ... Kommen Sie, sooft es Ihnen gefällt, und bringen Sie Leute mit, soviel Sie wollen!«
Er lachte verbindlich und begrüßte auch Pierre, der ihm, von seiner ruhigen Sorglosigkeit überrascht, die Frage vorlegte:
»Fallen Ihnen die hierherkommenden Leute nicht bisweilen lästig?«
Nun schien der Vikar überrascht zu sein.
»Gewiß nicht!« antwortete er, »es kommt ja niemand ... Dies Zimmer ist hier kaum bekannt. Alle Welt bleibt drunten in der Grotte ... Ich lasse die Tür offen, um nicht stets rennen und laufen zu müssen. Aber es vergehen Tage ohne daß ich nur das leiseste Geräusch einer Maus höre.«
Die Augen Pierres gewöhnten sich mehr und mehr an die Dunkelheit, und er erkannte endlich in den alle Winkel erfüllenden, unbestimmten und beunruhigenden Gegenständen alte Fässer, Trümmer von Hühnerkäfigen, zerbrochene Geräte und alle Arten von Lumpen, die man zusammen auskehrt und in die Tiefe der Keller wirft. Dann bemerkte er an den Durchzugsbalken aufgehängte Eßvorräte, einen Salatkorb voll Eier und Stränge dicker rosenfarbiger Zwiebeln.
»Wie ich sehe«, begann er mit einem leichten Beben aufs neue, »haben Sie geglaubt, das Zimmer benützen zu müssen.«
Der Vikar geriet in Verlegenheit.
»Gewiß ... so ist es... Ja, was soll ich tun? Das Haus ist klein, ich habe so wenig Platz. Und dann haben Sie auch keine Idee, wie feucht dieser Raum ist, es ist ganz unmöglich, ihn zu bewohnen ... Mein Gott! Da hat sich denn da alles nach und nach von selbst angehäuft, ohne daß man es wollte.«
»Und so wurde das Zimmer zu einer Rumpelkammer«, schloß Pierre.
»O nein, doch nicht! ...
Weitere Kostenlose Bücher