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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Matratze, die man zur Reserve mitgenommen hatte. Er war mit seinem ewigen Überrock bekleidet, sein breites rotes Band schmückte das Knopfloch, und jemand hatte die Vorsicht gehabt, seinen Stock mit dem silbernen Knopf aufzuheben und ihn sorgsam neben die Matratze auf die Erde gelegt.
    Der Abbé Judaine beugte sich sogleich zu ihm nieder.
    »Mein armer Freund, Sie erkennen uns, Sie hören uns, nicht wahr?«
    An dem Hauptmann schienen nur noch die Augen zu leben, diese aber lebten und leuchteten noch mit einer Flamme hartnäckiger Energie. Der Anfall, der diesmal die rechte Seite getroffen hatte, mußte ihm wohl die Sprache geraubt haben. Dennoch stammelte er einige Worte, und es gelang ihm, sich dahin verständlich zu machen, daß er hier endigen wollte, ohne daß man ihn von der Stelle rühre und ihn noch mehr belästige. Er hatte keinen Verwandten in Lourdes, niemand wußte hier etwas von seiner Vergangenheit oder seiner Familie, er lebte hier seit drei Jahren von seiner kleinen Anstellung auf dem Bahnhof und sah jetzt mit vollkommen glücklicher Miene endlich seinen glühenden, seinen einzigen Wunsch sich verwirklichen, den Wunsch, zu scheiden, in den ewigen Schlaf, in das heilende Nichts zu versinken. In seinen Augen strahlte in der Tat seine ganze große Freude.
    »Haben Sie irgendeinen Wunsch auszusprechen?« fuhr der Abbé Judaine fort, »können wir Ihnen nicht in irgendeiner Weise nützlich sein?«
    Nein, nein, seine Augen antworteten, daß er sich wohlfühlte, daß er zufrieden wäre. Schon seit drei Jahren war er nicht einen Morgen aufgestanden, ohne zu hoffen, er werde abends auf dem Kirchhof liegen. Wenn die Sonne glänzte, hatte er gewöhnlich mit sehnsüchtiger Miene gesagt: »Ach, welch schöner Tag zum Scheiden!« Mit Freuden wurde er empfangen, der Tod, der endlich kam, um ihn von diesem entsetzlichen Leben zu befreien.
    Doktor Chassaigne konnte dem Priester, der ihn anflehte, doch etwas zu versuchen, in bitterem Tone nur wiederholen:
    »Ich kann nichts tun, die Wissenschaft ist ohnmächtig, sein Urteil ist gesprochen.«
    In diesem Augenblick trat eine alte Frau, eine Pilgerin von achtzig Jahren, die sich verlaufen hatte und nicht mehr wußte, wohin sie gehen sollte, in den Schuppen. Sie schleppte sich, lahm und buckelig, zur Größe eines Kindes zusammengesunken, an allen Übeln des äußersten Greisenalters leidend, an einem Stocke dahin und nahm doch eine an einem Gurtriemen hängende, mit Wasser von Lourdes gefüllte Feldflasche mit, um ihr Leben trotz des entsetzlichen ruinenhaften Zustandes, in dem es sich befand, noch zu verlängern. Einen Augenblick geriet sie in ihrer greisenhaften Blödigkeit in Bestürzung, und sie betrachtete den Mann, der da mit steifen Gliedern sterbend auf der Erde lag. Dann erschien eine großmütterchenhafte Güte in ihren wirren Augen; eine Vertraulichkeit, die ihr das hohe Alter und ihre Gebrechlichkeit verliehen, veranlaßte sie, näherzutreten. Mit ihren beständig zitternden Händen ergriff sie ihre Feldflasche und hielt sie dem Manne hin.
    Das war für den Abbé ein plötzlicher Lichtstrahl, gleichsam eine Eingebung von oben. Er, der so viel für die Genesung der Frau Dieulafay gebetet und den die Heilige Jungfrau nicht erhört hatte, fühlte sich von einem neuen Glauben durchglüht und war überzeugt, der Hauptmann würde geheilt werden, wenn er tränke. Er fiel am Rande der Matratze auf die Knie nieder.
    »Oh, mein Bruder, Gott sendet Ihnen diese Frau... Versöhnen Sie sich mit Gott, trinken Sie und beten Sie, während wir von ganzer Seele das himmlische Mitleid anflehen werden. Gott wird Ihnen seine Macht beweisen, Gott wird das große Wunder wirken, Sie aufrichten, damit Sie noch lange Jahre auf dieser Erde wandeln können, um ihn zu lieben und zu preisen.«
    »Nein, nein!« Die glänzenden Augen des Hauptmanns schrien »nein!« Er sollte ebenso feige sein wie diese Herden von Pilgern, die unter so großer Mühsal weit herkamen, um sich zur Erde zu werfen, zu schluchzen und den Himmel anzuflehen, daß er sie noch einen Monat, ein Jahr, noch zehn Jahre leben lasse? ... Und es war doch so gut, so einfach, ruhig in seinem Bett zu sterben. Man dreht sich nach der Wand um und stirbt.
    »Trinken Sie, mein Bruder, ich beschwöre Sie... Es ist das Leben, das Sie trinken werden, die Gesundheit, die Kraft, und es ist auch die Freude am Leben... Trinken Sie, um wieder jung zu werden und ein frommes Leben zu beginnen. Trinken Sie, um das Lob der göttlichen Mutter zu

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