Lourdes
Zug... Oh, liebe Frau, ich habe Ihnen meine Qualen erzählt, Sie verstehen nun auch mein Glück, nicht wahr?«
Sie konnte nicht schweigen, sie sprach wieder von dem schrecklichen Brief, den sie am Sonntag bekommen und in dem er ihr mitgeteilt hatte, daß, wenn sie ihren Aufenthalt in Lourdes benütze, um ihn in Luchon aufzusuchen, er ihr seine Tür verschließen würde. Ein Mann, den sie aus Liebe geheiratet hatte! Ein Mann, der sie seit zehn Jahren vernachlässigte, der sein beständiges Umherziehen als Reisender dazu benutzte, um leichtfertige Geschöpfe von einem Ende Frankreichs zum andern spazierenzuführen. Jetzt war es aber zu Ende. Sie hatte den Himmel gebeten, sie von ihrem Kummer durch den Tod zu befreien, denn sie wußte wohl, daß der Treulose in diesem Augenblick sogar mit zwei Damen, zwei Schwestern, seinen Geliebten, in Luchon war. Was war denn nun geschehen, mein Gott? Ganz gewiß war es wie ein Blitzschlag herniedergefahren! Die beiden Damen hatten ohne Zweifel einen Wink von oben bekommen, das plötzliche Bewußtsein ihrer Sünde war ihnen aufgegangen, vielleicht in einem Traum, in dem sie sich im Fegefeuer gesehen hatten. Ohne eine Erklärung waren sie eines Abends aus dem Hotel verschwunden und hatten ihn dort sitzen lassen. Und er, der nicht allein leben konnte, hatte sich in so hohem Grade bestraft gefühlt, daß ihm der plötzliche Gedanke gekommen war, seine Frau aufzusuchen, um sie mitzunehmen und acht Tage bei sich zu behalten. Er sagte es nicht, aber sicher hatte ihn die göttliche Gnade berührt, und sie fand ihn zu hübsch, um nicht an einen wirklichen Beginn seiner Bekehrung zu glauben.
»Ach, wie dankbar bin ich der Heiligen Jungfrau«, fuhr sie fort. »Von ihr allein kommt sicher alles her, ich habe sie gestern abend wohl verstanden. Es war mir, als machte sie mir ein kleines Zeichen gerade in dem Augenblick, in dem mein Mann den Entschluß faßte, mich aufzusuchen ... Ich habe sie gerade um diese Stunde gebeten, das stimmt vollkommen... Sehen Sie, es gibt kein größeres Wunder, die anderen ringen mir ein Lächeln ab, die wiederhergestellten Beine und die verschwundenen Wunden. Ach, Unsere Liebe Frau von Lourdes sei gesegnet, sie hat mein Herz geheilt!«
Der große braune Mann drehte sich um, sie stürzte auf ihn zu und vergaß darüber, Adieu zu sagen. Diese unerhoffte Liebe, dieses verspätete Wiederaufblühen des Honigmondes, eine ganze Woche, die sie mit dem Manne verbringen würde, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte, machte sie wirklich vor Freude wahnsinnig. Er war ein guter Kerl, der sich in einer Stunde des Ärgers und der Einsamkeit ihr wieder zugewandt hatte, und wurde schließlich ganz weich. Das Abenteuer amüsierte ihn, und er fand sie viel hübscher, als er geglaubt hatte.
In diesem Augenblick kam in der wachsenden Flut der Kranken, die man herbeibrachte, der Zug von Toulouse endlich an. Das steigerte noch den Tumult, und es entstand eine außerordentliche Verwirrung. Man sah den Stationsvorsteher hin und her laufen, und aus voller Brust schrie er:
»Achtung da unten, machen Sie doch das Geleise frei I«
Ein Beamter mußte hineilen und einen kleinen, auf den Schienen vergessenen Wagen mit einer alten Frau fortstoßen. Eine entsetzte Schar von Pilgern lief noch etwa dreißig Meter vor der Lokomotive hin und her, die langsam, grollend und fauchend vorrückte. Andere verloren den Kopf und wären unter die Räder gekommen, wenn die Beamten sie nicht brutal bei den Schultern gefaßt hätten.
Endlich hielt der Zug, ohne jemand überfahren zu haben, inmitten der umherliegenden Matratzen, Kopfkissen und Kissen und der entsetzten Gruppen, die noch immer hin und her liefen. Die Türen wurden geöffnet, eine Flut von Reisenden stieg aus, eine andere stieg ein, so ergab sich eine doppelte Gegenströmung, und man drängte sich mit einem Eigensinn, der den Tumult bis zum äußersten steigerte. An den Fenstern der geschlossenen Abteile waren Köpfe erschienen, die zuerst nur neugierig geblickt hatten, dann aber angesichts des erstaunlichen Schauspiels von Entsetzen erfaßt wurden. Da waren besonders zwei junge, wunderhübsche Mädchen, deren treuherzige, große Augen schließlich das schmerzlichste Mitleid ausgedrückt hatten.
Frau Maze war, von ihrem Mann begleitet, in einen Wagen gestiegen. Sie war so glücklich, es war ihr so leicht, daß sie wie am schon fernliegenden Abend ihrer Hochzeitsreise zwanzig Jahre alt erschien. Die Türen wurden wieder geschlossen, die
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