Lourdes
singen, die Ihren Körper und Ihre Seele retten wird... Sie spricht zu mir, Ihre Auferstehung ist gewiß...«
»Nein, nein!« Die Augen lehnten ab, sie stießen das Leben mit wachsender Hartnäckigkeit zurück. Und jetzt kam sogar eine dumpfe Furcht vor dem Wunder dazu. Der Hauptmann glaubte nicht. In den drei Jahren, die er hier war, hatte er angesichts der angeblichen Heilungen immer nur die Achseln gezuckt. Aber konnte man denn in dieser merkwürdigen Welt je wissen, was zu erwarten war? Es geschahen manchmal so außerordentliche Dinge!
Wenn ihr Wasser zufällig wirklich eine übernatürliche Kraft besäße und wenn sie ihm mit Gewalt davon zu trinken gäben, es wäre furchtbar, wieder aufzuleben, das Zuchthausdasein von neuem zu beginnen, das greuliche Leiden durchzumachen, das Lazarus, der bejammernswerte Auserkorene für das große Wunder, zweimal erduldet hatte! Nein, nein, er wollte nicht trinken, er wollte sich der schrecklichen Möglichkeit der Wiederauferstehung nicht aussetzen.
»Trinken Sie, trinken Sie, mein Bruder«, wiederholte der alter Priester mit Tränen in den Augen, »verharren Sie nicht in Ihrer Ablehnung der göttlichen Gnaden.«
Und nun sah man das Entsetzliche, wie dieser schon halbtote Mann sich aufrichtete, die beklemmenden Bande des Starrkrampfs abschüttelte, für eine Sekunde seine gefesselte Zunge löste und grollend und stammelnd mit rauher Stimme schrie:
»Nein, nein, nein!«
Pierre mußte die alte erschreckte Pilgerin fortführen und ihr den Weg zeigen. Sie hatte diese Zurückweisung des Wassers nicht begriffen, das sie als ein unschätzbares Gut, als das Geschenk der Ewigkeit Gottes für die armen Leute, die nicht sterben wollen, davontrug. Hinkend und buckelig den traurigen Rest ihrer achtzig Jahre an ihrem Stocke dahinschleppend, verschwand sie unter der hin und her eilenden Menge, verzehrt von der Leidenschaft zu leben, gierig nach frischer Luft, Sonne und Lärm. Marie und ihr Vater begannen zu zittern angesichts dieses Verlangens nach dem Tode, dieses heißhungrigen Begehrens nach dem Nichts. Ach, schlafen, schlafen ohne Traum, in der Unendlichkeit der Schatten, ewig, ewig! Nichts auf der Welt konnte so süß sein. Es war nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben, nicht der Wunsch, in einem Paradies der Gleichheit und Gerechtigkeit endlich glücklich zu werden. Es war nur das Bedürfnis nach der schwarzen Nacht, nach dem endlosen Schlummer, die Freude, auf ewig nicht mehr zu sein. Den Doktor Chassaigne überlief ein Schaudern, denn auch er nährte nur einen Gedanken, den an die Glückseligkeit der Minute, in der er sterben würde. Aber jenseits dieses Lebens erwarteten ihn seine teuren Toten, seine Frau und seine Tochter, beim Stelldichein im ewigen Leben!
Mühsam erhob sich der Abbé Judaine. Er hatte zu bemerken geglaubt, daß der Hauptmann jetzt seine lebhaften Augen auf Marie richtete. Über sein unnützes Flehen tief betrübt, wollte er ihm ein Beispiel der Güte Gottes zeigen, die er zurückstieß.
»Sie erkennen sie, nicht wahr? Ja, es ist das junge Mädchen, das Sonnabend so krank, an beiden Beinen gelähmt, hier ankam, und nun sehen Sie sie jetzt, gesund, stark und schön!... Der Himmel hat ihr Gnade erwiesen, sie fühlt sich in ihrer Jugend wie neugeboren zu dem langen Leben, zu dem sie geboren ist... Empfinden Sie keine Sehnsucht, wenn Sie sie betrachten? Möchten Sie auch dieses Kind am liebsten tot sehen? Hätten Sie ihr auch geraten, nicht zu trinken?«
Der Hauptmann konnte nicht antworten, aber seine Augen verließen das junge Gesicht Maries nicht mehr, in dem man ein großes Glück über ihre Auferstehung las, eine feste Hoffnung auf zahllose kommende Tage, und Tränen erschienen, quollen unter seinen Wimpern hervor, rollten an seinen bereits kalten Wangen hernieder. Er weinte gewiß über sie, er dachte an jenes andere Wunder, das er ihr gewünscht hatte, wenn sie gesund würde, nämlich, glücklich zu werden. Es war die Rührung eines alten Mannes, der das Elend dieser Welt kannte, und den all die Schmerzen, die dieses Geschöpf noch erwarteten, mit Mitleid erfüllten.
Ach, das arme Weib! Wie oft würde sie vielleicht bedauern, nicht in ihrem zwanzigsten Jahr gestorben zu sein!
Nun verdunkelten sich seine Augen, als wenn die Tränen des äußersten Mitleids sie aufgelöst hätten. Es war das Ende, der Verfall trat ein, das geistige Bewußtsein schwand mit dem Atem. Er wandte sich um und starb.
Sogleich schob Doktor Chassaigne Marie beiseite.
»Der
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