Lourdes
Stunde. Wie wäre ich imstande gewesen, den Bahnhof wieder zu finden? Nach dem Begräbnis da unten, an einem Orte, an dem zwei Bäume standen, haben mich die armen Leute fortgebracht. Sie haben mich geführt und in den Wagen gestoßen, gerade als der Zug abging. Aber welch einen Entschluß hat es mich gekostet, mich loszureißen, gerade wie wenn mein Herz unter der Erde geblieben wäre! Und das ist schrecklich, das ist schrecklich, mein Gott!«
»Arme Frau«, murmelte Marie, »haben Sie Mut, bitten Sie die Heilige Jungfrau um den Beistand, den sie den Betrübten niemals verweigert.«
Nun erschütterte sie wieder ein Wutanfall.
»Das ist nicht wahr, die Heilige Jungfrau macht sich über mich lustig, die Heilige Jungfrau ist eine Lügnerin. Warum hat sie mich getäuscht? Niemals wäre ich nach Lourdes gegangen, wenn ich nicht diese Stimme in einer Kirche gehört hätte. Meine Tochter würde noch leben, vielleicht würden die Ärzte sie retten. Ach, wie recht hatte ich! Es gibt keine Heilige Jungfrau, es gibt keinen guten Gott.«
Und ohne Entsagung, ohne Illusion oder Hoffnung fuhr sie fort, lästerte mit der wütenden Plumpheit des Volkes und schrie ihre Leiden so wild hinaus, daß Schwester Hyacinthe dazwischentreten mußte.
»Unglückliche, schweigen Sie, der liebe Gott bestraft Sie, indem er Ihre Wunde bluten läßt.«
Die Szene hatte lange gedauert, und als man mit vollem Dampfe an Riscle vorüberfuhr, klatschte sie von neuem in die Hände und gab das Zeichen, man solle das »Laudate, laudate Mariam« singen.
»Vorwärts, vorwärts, meine Kinder, alle zusammen und von ganzem Herzen.«
O möchten alle Stimmen,
Im Himmel und auf Erden,
Der Heil'gen Mutter Gottes
Zum Lobgesange werden!
Laudate, laudate, laudate Mariam.
Da ihre Stimme von diesem Gesang der Liebe übertönt wurde, so schluchzte Frau Vincent, in ihrer Empörung erschöpft, ohne Kraft, in der stammelnden Schwäche einer armen, vor Schmerz und Müdigkeit stumpfsinnig gewordenen Frau, nur noch in ihre beiden Hände.
In dem Wagen machte sich nach dem Gesang die Ermüdung bei allen bemerkbar. Es waren nur noch die lebhafte Schwester Hyacinthe und die sanfte, ernste und feine Schwester Claire des Anges, die, wie bei der Abreise von Paris und während des Aufenthaltes in Lourdes, eine berufsmäßige, an alles gewöhnte und über alles siegende Ruhe zur Schau trugen. Frau von Jonquière, die fünf Tage kaum geschlafen hatte, hatte die größte Mühe, ihre armen Augen offen zu halten. Trotzdem war sie von der Reise entzückt und fuhr mit der großen Freude im Herzen nach Hause, ihre Tochter verlobt zu haben und das schönste Wunder mitzubringen, eine Geheilte, von der die ganze Welt sprach. Sie nahm sich vor, in dieser Nacht gut zu schlafen trotz des harten Rüttelns und wurde doch wieder von dumpfer Furcht ergriffen wegen der Grivotte, die ihr seltsam aufgeregt und verstört erschien, mit ihren wirren Augen und ihren mit blaßvioletten Flecken fieberhaft gefärbten Wangen. Zehnmal hatte sie sie veranlassen wollen, sich ruhig zu verhalten, ohne durchsetzen zu können, daß sie mit gefalteten Händen und geschlossenen Wimpern sich nicht mehr rührte. Glücklicherweise verursachten ihr die anderen Kranken keinerlei Unruhe, denn alle fühlten sich erleichtert oder so müde, daß sie bereits schlummerten. Elise Rouquet hatte sich einen Taschenspiegel gekauft, einen großen, runden Spiegel, in den sie nicht müde wurde hineinzublicken. Sie fand sich schön, stellte von Minute zu Minute die Fortschritte ihrer Heilung fest, und zwar mit einer Koketterie, die sie jetzt, da ihr ungeheuerliches Gesicht wieder menschlich wurde, die Lippen zusammenkneifen und ein Lächeln versuchen ließ. Sophie Couteau spielte artig. Sie hatte sich allein den Strumpf ausgezogen, als sie sah, daß niemand mehr ihren Fuß prüfen wollte und wiederholte, sie müsse ganz sicher einen Kieselstein im Strumpf haben. Und da man noch immer auf ihren von der Heiligen Jungfrau gesegneten Fuß nicht achtgab, so behielt sie ihn zwischen den Händen, streichelte ihn und schien entzückt, ihn berühren und damit spielen zu können.
Herr von Guersaint hatte sich aufgerichtet und über die Scheidewand gelehnt, um mit Herrn Sabathier zu plaudern.
»Vater, Vater«, sagte plötzlich Marie, »sieh doch diesen Einschnitt im Holz! Der Eisenbeschlag meines Wägelchens hat das gemacht.«
Dieses kleine Zeichen machte sie so glücklich, daß sie einen Augenblick den geheimen Kummer vergaß, den sie
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