Lourdes
verschweigen wollte. So wie Frau Vincent geschluchzt hatte, als sie den von ihrem Töchterchen berührten Lederriemen bemerkte, so brach sie plötzlich in ein Freudengeschrei aus beim Anblick dieser Schramme, die sie an ihr langes. Martyrium, an diesen ganzen verschwundenen Greuel erinnerte, der wie ein böser Traum verflogen war.
»Wenn man sich sagt, daß es kaum vier Tage her ist! Ich lag da, ich konnte mich nicht rühren, und jetzt komme ich und gehe ich und fühle mich so behaglich!«
Herr von Guersaint und Pierre lächelten ihr zu. Dann sagte Herr Sabathier, der ihr zugehört hatte, langsam: »Das ist wohl wahr, man läßt ein wenig von seinem Wesen, von seinen Leiden, seinen Hoffnungen, in den Dingen unserer Umgebung zurück. Und wenn man sie wiederfindet, so sprechen sie zu einem, sie erzählen von unseren Freuden und Leiden, von allem, was wir erlebt haben.«
Mit seiner gefaßten Miene war er seit seiner Abreise von Lourdes schweigsam in seinem Winkel geblieben, und selbst seine Frau, als sie ihm die Beine einwickelte und ihn fragte, ob er Schmerzen hätte, brachte nur Kopfschütteln aus ihm heraus. Er hatte keine Schmerzen, aber er war von einer unbehaglichen Erschöpfung übermannt.
»Sehen Sie«, fuhr er fort, »so habe ich mich bei der Herfahrt, bei der langen Reise damit zerstreut, die Borten da oben an der Decke zu zählen. Es sind dreizehn, von der Lampe bis zur Wagentür. Ich habe sie eben wieder gezählt, und es sind natürlich immer noch dreizehn... So ist's auch mit dem Kupferknopf da neben mir. Sie können sich nicht denken, welche Träume ich in der Nacht, in der uns der Herr Abbé die Geschichte der Bernadette vorgelesen hat, entworfen habe, als ich ihn so glänzen sah. Ja, ich sah mich geheilt, ich machte die Reise nach Rom, von der ich seit zwanzig Jahren spreche, ich ging, ich durchwanderte die Welt, kurz, es waren wahnsinnige und köstliche Träume. Und jetzt, da wir nach Paris zurückkehren, sind da oben dreizehn Borten, der Knopf glänzt, und alles sagt mir, daß ich mich von neuem auf dieser Bank mit meinen toten Beinen befinde. Nun, es ist abgemacht, ich bin und bleibe ein armes, altes Tier, mit dem es zu Ende ist.«
Zwei große Tränen erschienen in seinen Augen, er mußte wohl eine Stunde entsetzlicher Bitterkeit durchmachen. Aber er erhob seinen dicken, viereckigen Kopf mit den Kinnbacken, die so viel geduldige Hartnäckigkeit verrieten.
»Das war das siebente Jahr, daß ich nach Lourdes ging, und die Heilige Jungfrau hat mich nicht erhört. Das tut nichts, das wird mich nicht verhindern, im nächsten Jahr wieder hin zu gehen. Vielleicht wird sie endlich die Gnade haben, mich zu erhören.« Er empörte sich nicht, und Pierre war, als er sich mit ihm unterhielt, bestürzt über diese lebhafte, beharrliche Gläubigkeit, die sogar in diesem geistig entwickelten Schädel erblühte. Aus welchem glühenden Wunsche nach Genesung und Leben waren dieser Verzicht auf Gewißheit, diese blinde Willenskraft geboren worden? Außerhalb jeder natürlichen Wahrscheinlichkeit klammerte er sich daran, gerettet zu werden, trotzdem das Wunder so oft mißlungen war, und schickte sich an, seinen neuen Mißerfolg zu erklären, und zwar mit einer Zerstreutheit, die er vor der Grotte gehabt hatte, einer zweifellos ungenügenden Reue, allen Arten kleiner Sünden, die die Heilige Jungfrau in Mißstimmung versetzt haben mußten. Er nahm sich bereits vor, im nächsten Jahr irgendwo eine neuntägige Andacht zu halten, bevor er nach Lourdes ging.
»Übrigens«, fuhr er fort, »Sie kennen doch das Glück, das mein Stellvertreter gehabt hat, Sie erinnern sich doch, der Schwindsüchtige, für den ich die fünfzig Frank Reisegeld gegeben habe, als ich mich aufnehmen ließ. Nun, er ist vollständig geheilt.«
»Wirklich, ein Schwindsüchtiger?« rief Herr von Guersaint.
»Vollkommen geheilt, wie durch einen Zauberschlag! Ich habe ihn verfallen, gelb, dürr wie eine Hopfenstange gesehen, und er hat mir ganz munter einen Besuch im Hospital abgestattet. Wirklich, ich habe ihm fünf Frank gegeben.«
Pierre mußte ein Lächeln unterdrücken, er kannte die Geschichte, er hatte sie von Doktor Chassaigne gehört. Der betreffende Geheilte war ein Simulant, den man schließlich im ärztlichen Büro, in den die Heilungen festgestellt wurden, durchschaut hatte. Das mußte wenigstens das dritte Jahr sein, daß er sich vorstellte. Das erstemal wegen einer Lähmung, das zweitemal wegen einer Geschwulst, die alle beide
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