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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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vollständig geheilt waren. Jedesmal ließ er sich spazierenfahren, beherbergen, ernähren und reiste dann, mit Almosen überhäuft, ab. Er war ein früherer Krankenwärter aus den Hospitälern, verstellte, verwandelte sich förmlich, schminkte sich den Kopf seinem Übel entsprechend, und zwar mit einer so außerordentlichen Kunstfertigkeit, daß Doktor Bonamy nur durch Zufall der Schwindel klar geworden war. Übrigens hatten die Patres sofort Stillschweigen über das Abenteuer verlangt. Wozu diesen Skandal dem Gespött der Zeitungen ausliefern? Wenn sie solche Gaunereien entdeckten, so begnügten sie sich damit, die Schuldigen verschwinden zu lassen. Die Simulanten waren übrigens ziemlich selten. Leider waren außerhalb des Glaubens die Dummheit und Unwissenheit vollkommen genügend.
    Herr Sabathier war sehr bewegt bei dem Gedanken, daß der Himmel den Mann, der auf seine Kosten gekommen war, geheilt hatte, während er kraftlos, in demselben bejammernswerten Zustande zurückkehrte. Er seufzte und konnte nicht umhin, mit ein wenig Neid in seiner Entsagung zu folgern:
    »Was wollen Sie, die Heilige Jungfrau muß doch wissen, was sie tut, nicht wahr? Weder Sie, noch ich werden Rechenschaft über ihre Handlungen verlangen. Wenn es ihr gefallen wird, ihren Blick auf mich zu werfen, so wird sie mich stets zu ihren Füßen finden.«
    In Mont-de-Marsan ließ Schwester Hyacinthe nach dem Angelus den zweiten Rosenkranz herbeten, die fünf schmerzlichen Mysterien: Jesus im Garten des Ölbergs, den gepeitschten Jesus, Jesus mit der Dornenkrone, Jesu Kreuztragung und Jesus am Kreuze sterbend. Dann aß man im Wagen, denn von Bordeaux, wo man erst um elf Uhr abends ankommen sollte, gab es keinen Aufenthalt. Alle Körbe der Pilger waren mit Lebensmitteln vollgestopft, ganz zu schweigen von der Milch, der Brühe, der Schokolade und der Früchte, die Schwester Saint-François geschickt hatte. Dann wurde brüderlich geteilt. Man aß auf den Knien, man rückte einander näher, jedes Abteil bildete nur noch eine Zufallstafel, eine Kindermahlzeit, zu der jeder seinen Beitrag lieferte. Als man an Morceux vorüberfuhr, hatte man fertig gegessen und packte den Rest des Brotes und die fettigen Papiere wieder ein.
    »Liebe Kinder«, sagte Schwester Hyacinthe, »das Abendgebet.«
    Und nun gab es ein verworrenes Gesumme, Paternosters, Aves, eine Gewissensprüfung, einen Akt der Reue, ein Versenken seiner selbst in Gott, die Heilige Jungfrau und die Heiligen, eine Danksagung für den glücklichen Tag, die in einem Gebet für die Lebenden und für die dahingeschiedenen Gläubigen ausklang.
    »Ich sage Ihnen jetzt schon«, fuhr die Nonne fort, »daß ich um zehn Uhr, wenn wir in Lamothe sind, Stille gebieten werde, aber ich hoffe, Sie werden vernünftig sein, und man wird wohl nicht nötig haben, Sie in den Schlaf zu wiegen.«
    Diese Bemerkung rief heiteres Lachen hervor.
    Es war halb neun Uhr, und die Nacht war langsam über die Landschaft hereingebrochen. Nur über den Hügeln lag noch die unbestimmte, scheidende Dämmerung, während eine dichte Schattenfläche die Ebenen ertränkte. Der Zug sauste in eine ungeheure Ebene hinab, man sah nur noch das Schattenmeer, in dem er unter einem sternbesäten, schwarzblauen Himmel dahinrollte.
    Seit einem Augenblick wunderte sich Pierre über das Benehmen der Grivotte. Während die Pilger und Kranken, zwischen die Gepäckstücke gekauert, welche das beständige Schütteln hin und her schaukelte, bereits einschlummerten, hatte sie sich ganz gerade erhoben und klammerte sich in plötzlicher Angst an die Scheidewand. Und unter der Lampe, deren blasses gelbes Licht hin und her tanzte, erschien sie mit dem fahlen, verzerrten Gesicht gleichsam von neuem abgemagert.
    »Gnädige Frau, geben Sie acht, sie wird fallen«, rief der Priester Frau von Jonquière zu, die gerade einschlief.
    Diese fuhr hastig auf, Schwester Hyacinthe hatte sich ebenfalls umgewendet. Sie nahm die Grivotte, die ein wütender Hustenanfall auf die Bank niederwarf, in ihre Arme. Fünf Minuten lang wurde die Ärmste von einem fürchterlichen Anfall geschüttelt. Dann brach ein roter Strom hervor, und sie spuckte Blut aus vollem Halse.
    »Mein Gott, mein Gott, es packt sie wieder«, rief Frau von Jonquière verzweifelt. »Ich ahnte es, als ich sie so seltsam sah. Warten Sie, ich werde mich zu ihr setzen.«
    Die Nonne wies sie ab.
    »Nein, nein, gnädige Frau, schlafen Sie ein wenig, ich werde wachen. Sie sind nicht daran gewöhnt, Sie würden

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