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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Schweigen kein Wort gesprochen, wie um sich in ihrem entsetzlichen Schmerze noch mehr zu verkriechen. Als sie aber die Augen öffnete, bemerkte sie den Lederriemen, der an der Tür hing. Und der Anblick dieses Riemens, den ihr Kind berührt, mit dem ihr Kind gespielt hatte, erfüllte sie mit einer Verzweiflung, deren Gewalt die ganze Kraft, mit der sie sich zur Ruhe zwang, vernichtete.
    »Ach, meine arme kleine Rose. Sie hatte das in ihre kleine Hand genommen und herumgedreht, sie betrachtete es, und es war sicher ihr letztes Spielzeug. Ach, da waren wir doch noch zu zweien, sie lebte noch, ich hatte sie noch auf meinen Knien, in meinen Armen. Das war noch so schön, so schön. Nun habe ich sie verloren, verloren auf immer, meine arme kleine Rose, meine arme kleine Rose!«
    Mit wirren Blicken betrachtete sie schluchzend ihre leeren Arme, mit denen sie nichts mehr anzufangen wußte. Sie hatte ihre Tochter so lange darauf gewiegt, so lange darauf getragen, daß es ihr jetzt vorkam, als ob ihr Körper eine Verrichtung weniger ausübte. Sie war gleichsam verblödet, so daß ihr bei ihrer Untätigkeit ihre Gliedmaßen als unnütz vorkamen. Und ihre Arme, ihre Knie waren ihr im Wege.
    Tiefbewegt hatten Pierre und Marie sich um sie bemüht, mit guten Worten suchten sie die arme Mutter zu trösten. Nach und nach lernten sie durch die abgerissenen Sätze, die sich in ihre Tränen mischten, die furchtbaren Leiden kennen, die sie seit dem Tode ihrer Tochter erduldet hatte. Am Morgen des gestrigen Tages, als sie sie im Sturm tot in ihren Armen fortgetragen hatte, mußte sie wohl lange Zeit, blind und taub durch den Regen gelaufen sein. Sie erinnerte sich nicht mehr an die Plätze, die sie überschritten hatte, nicht mehr an die Straßen, die sie in diesem bösen Lourdes gegangen war, diesem kindesmörderischen Lourdes, das sie verfluchte.
    »Oh, ich weiß nichts mehr, ich weiß nichts mehr. Ja, Leute haben mich aufgenommen, haben Mitleid mit mir gehabt, Leute, die ich nicht kenne, die irgendwo wohnen. Ach, ich weiß nichts mehr... irgendwo da oben, sehr weit, am andern Ende der Stadt... Aber sicher sind es sehr arme Leute, denn ich sehe mich wieder in einem ärmlichen Zimmer, mit meiner armen, ganz kalten Kleinen, die sie auf ihr Bett gelegt hatten –«
    Bei dieser Erinnerung erschütterte sie ein neuer Anfall von Schluchzen und erstickte sie fast.
    »Nein, nein, ich wollte mich nicht von ihrem teuren, kleinen Körper trennen und ihn in dieser abscheulichen Stadt zurücklassen, ja, ich kann es nicht recht sagen, aber die armen Leute müssen mich wohl hergeführt haben. Wir haben Wege gemacht, oh, Wege... alle Herren von der Eisenbahn und von der Pilgerschaft haben wir besucht. Ich wiederholte ihnen: »Was tut Ihnen denn das? Erlauben Sie mir doch, sie nach Paris in meinen Armen mitzunehmen. Ich habe sie lebend hergebracht, ich kann sie auch tot wieder fortbringen, niemand wird etwas bemerken, man wird glauben, sie schläft.« Und alle diese Leute, alle diese Behörden haben mich angeschrien, haben mich fortgeschickt, als wenn ich häßliche Dinge von ihnen verlangte. Dann habe ich ihnen schließlich Dummheiten gesagt. »Nicht wahr, wenn man so viele Geschichten macht, wenn man so viele Kranke zum Tode führt, dann kann man es doch auch übernehmen, die Toten zurückzubringen.« Und wissen Sie, was sie auf dem Bahnhof schließlich von mir verlangt haben? Dreihundert Frank, ja, ich glaube, das ist der Preis. Allmächtiger Gott, dreihundert Frank! Ich, die ich mit dreißig Sous in der Tasche gekommen bin. Sie hätten mein Leben von mir verlangen sollen, das hätte ich ihnen sehr gern gegeben. Dreihundert Frank! Dreihundert Frank für diesen armen, kleinen Vogelkörper. Ich wäre so getröstet gewesen, hätte ich ihn auf meinen Knien mitnehmen können.«
    Dann stammelte sie nur noch dumpfe Klagen.
    »Ach, wenn Sie alles wüßten, was die armen Leute mir für vernünftige Sachen gesagt haben, um mich zur Abreise zu veranlassen. Eine Arbeiterin wie ich, auf die ihre Arbeit warte, sollte nach Paris zurückkehren. Und dann hatte ich doch auch nicht die Mittel, meine Rückfahrkarte verfallen zu lassen. Ich müßte den Zug um drei Uhr vierzig nehmen. Sie haben noch gesagt, man sei gezwungen, sich in die Dinge zu fügen, wenn man nicht reich sei. Nicht wahr, nur die Reichen behalten ihre Toten und machen mit ihnen, was sie wollen? Und ich erinnere mich nicht mehr, ich erinnere mich an gar nichts mehr. Ich wußte nicht einmal mehr die

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