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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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sich wieder in vollkommen unversehrtem Zustande, die Körperfülle war zurückgekehrt, und alles in der Geschwindigkeit eines Blitzstrahls. Die Wissenschaft war verhöhnt, man gebrauchte nicht einmal die einfachsten Vorsichtsmaßregeln, da die Schwindsüchtigen schweißbedeckt in das eiskalte Wasser stiegen. Man ließ die Wunden ruhig in Fäulnis übergehen, ohne irgendwelche antiseptische Vorkehrung zu treffen. Und welch ein Jubelgesang erschallt dann nach jeder Heilung, welche Rufe der Dankbarkeit und Liebe! Die durch das Wunder Gerettete wirft sich auf die Knie nieder, alles weint, Bekehrungen finden statt, Protestanten und Juden treten zum Katholizismus über, und andere Wunder des Glaubens ereignen sich, bei denen der Himmel triumphiert. Die Bewohner stehen in Menge versammelt, um die Geheilte bei ihrer Rückkehr in das Dorf zu empfangen, während die Glocken ihre feierlichen Stimmen erschallen lassen. Wenn man sie leichtfüßig aus dem Wagen springen sieht, ertönen Freudenrufe, und man stimmt das Magnifikat an. Ruhm und Ehre der Heiligen Jungfrau! Ewige Dankbarkeit und Liebe!
    Der Zug rollte vorwärts, rollte weiter und weiter. Man fuhr gerade durch Coutras, es war sechs Uhr. Schwester Hyacinthe erhob sich, klatschte in die Hände und wiederholte noch einmal:
    »Das Angelus, meine Kinder!«
    Niemals waren die Aves mit gläubigerer Inbrunst gebetet worden. Da begriff Pierre plötzlich, da fand er die richtige Erklärung für diese Pilgerfahrten, für alle die Züge, die durch die ganze Welt rollten, für diese zusammenströmenden Menschenmassen, für Lourdes selbst, das wie das Heil für Leib und Seele strahlte. Jammergestalten sah er seit diesem Morgen vor sich, sah, wie sie in ihren Schmerzen röchelten und stöhnten! Sie waren alle von der Wissenschaft verurteilt und aufgegeben und waren es überdrüssig, Ärzte zu konsultieren und sich mit nutzlosen Heilmitteln quälen zu lassen. So begriff man auch, daß sie in dem heißen Verlangen, zu leben, und nicht gewillt, sich mit den Anordnungen der ungerechten Natur zufrieden zu geben, sich dem Traume einer überirdischen Gewalt hingaben, einer allmächtigen Gottheit, die vielleicht die bestehenden Gesetze aufheben, den Lauf der Gestirne verändern und die Vergangenheit wieder wachrufen würde. Blieb ihnen denn Gott nicht, wenn die Erde sie im Stiche ließ? Oh, wer doch glauben könnte, daß es irgendwo einen höchsten Gerichtsherrn gibt, der die Ungerechtigkeiten der Menschen und der Dinge ausgleicht, wer doch glauben könnte, daß es einen Erlöser gibt, einen Tröster, der der Herr ist, der die Ströme zu ihrer Quelle zurückfließen lassen, den Greisen die Jugend wiedergeben und die Toten auferwecken kann! Wer sich sagen könnte, wenn man mit Wunden bedeckt ist, wenn man verkrüppelte Glieder hat, wenn der Leib durch Geschwüre angeschwollen und die Lunge zerstört ist, wer sich dann sagen könnte, das hat nichts zu bedeuten, alles das kann verschwinden und wiedererstehen auf ein Zeichen der Heiligen Jungfrau, und es genügt, zu ihr zu beten, sie zu rühren und von ihr mit einem Wunder begnadet zu werden! Und dann, welch eine Quelle himmlischer Hoffnungen ist es, wenn man den überreichen Strom dieser schönen Geschichten fließen läßt, die die fieberhaft erregte Einbildungskraft der Kranken und Siechen bezaubert und berauscht! Seitdem die kleine Sophie Couteau mit ihrem geheilten weißen Fuß in den Wagen gestiegen war und den grenzenlosen Himmel des Göttlichen und Übernatürlichen aufgetan hatte, wie verstand man da den Hauch von wunderbarer Genesung, der durch den Raum zog, die Verzweifelten von ihrem Siechbett emporrichtete und die Augen aller erglänzen ließ. Das Leben war auch für sie noch möglich, vielleicht würden sie selbst es bald von neuem anfangen.
    Ja, so verhielt es sich. Wenn dieser jammervolle Zug dahinrollte und immer weiter und weiter rollte, wenn der Wagen voll war, wenn die anderen voll waren, wenn Frankreich und die Welt von den entferntesten Winkeln der Erde her von ähnlichen Zügen durchbraust wurden, wenn mehr als dreimalhunderttausend Gläubige, die Tausende von Kranken mit sich führten, von einem Ende des Landes zum andern sich in Bewegung setzten, so geschah dies alles, weil dort unten die Grotte in ihrer Glorie strahlte wie ein Leuchtturm der Hoffnung und des Glaubens, wie der Triumph des Unmöglichen über die unerbittliche Materie. Diesen Traum zu träumen, das war das große, unaussprechliche Glück. Wenn von Jahr zu

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